Nacht der Begierde (Geraldine Guthrie) (German Edition)
Blätter, als gäbe es in Florida einen Herbst. Die Luft wurde immer feuchter. Dann ritt ein Pferd vorbei. Es hatte keine Farbe oder vielmehr alle. Im Vorbeireiten lächelte es traurig (Geraldine fand das albern, da Pferde nicht lächelten) und sagte: "Das nächste Mal heirate ich dich." Dann flog eine rosa Kinderbadewanne vorbei. In ihr saß Robert, Geraldines Ex-Freund, nackt und mit einem Bären auf dem Schoß. Sie dachte, dass das nicht sein könne, denn Robert hasste Tiere. Der Bär verschwand. Stattdessen setzten sich kleine, goldene Vögelchen zu Robert. Die Badewanne und ihr Ex-Freund lösten sich auf und einen Moment lang erschien ein Gesicht von einem jungen Mann, den Geraldine nicht einordnen konnte. Es war ein sehr ebenmäßiges Gesicht mit schönen, dunklen Augen, einer geraden Nase und vollen Lippen. Er hatte einen Dreitagebart und kurzes, blondes Haar. In der Ferne hörte sie ein Rauschen wie eine heranstürmende Welle (obwohl sie noch nie eine heranstürmende Welle gehört hatte). Dann legten sich düstere Schatten über das Gesicht und es verblasste. Sie vergaß sofort, wie es genau ausgesehen hatte. Ein Allerweltsgesicht, dachte sie entschuldigend, hübsch und nichts sagend, wie man es auf tausend Plakaten sieht. Aus den Schatten entstand wieder ihr Ex-Freund. Er hatte eine lange Kutte an und erklärte, dass er zunächst Jaclyn heiraten würde und dann erst sie. Geraldine wollte gerade entgegnen, dass sie ihn niemals heiraten würde, als sie aufwachte.
Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Sie wunderte sich darüber, da der Traum doch so lächerlich gewesen war, jedenfalls kein Angsttraum. Einen Moment erfasste sie ein Schwindel. Doch er legte sich rasch.
Den Mittag über döste sie und dachte an gar nichts.
* * *
Jaclyn erschien am frühen Nachmittag.
Sie war drei Jahre jünger als Geraldine, dünn und muskulös und hatte rötlich-blondes Haar, das sie wohl von ihrer anderen Großmutter geerbt hatte. Ihre Eltern hatten genauso wie Geraldine selbst dunkelbraunes, fast schwarzes Haar. Wie immer, wenn Jaclyn auf ihre ältere Schwester traf, reagierte sie unsicher. Nach dem Tod ihrer Eltern (ihr Vater war während einer Autopanne von einem vorbeifahrenden Lastwagen gestreift und tödlich verletzt worden und ihre Mutter wurde, als sie den Weg zur letzten Ortschaft zurücklief, von einem Alligator angefallen; man fand später nur noch Teile ihres Körpers im nahe liegenden Sumpf) hatte sich Jaclyn völlig in sich zurückgezogen, sprach nicht mehr und verließ kaum ihr Zimmer. Geraldine trauerte zwar ebenso um ihre Eltern, aber die Sorge um ihre jüngere Schwester war stärker und so kümmerte sie sich rührend um sie. Jaclyn war dreizehn, als die Eltern verstarben. Mit sechzehn kroch sie aus ihrem Kokon, fing mit siebzehn an Sport zu studieren und war mit 21 Lehrerin an einer Highschool. Doch obwohl sie sich so gut gemausert hatte, saß die Erfahrung tief. Die meisten Menschen registrierten das nicht, aber Geraldine, die ihre Schwester besser als jeder andere Mensch auf der Welt kannte (abgesehen von ihrer noch lebenden Großmutter), fiel die Schüchternheit jedes Mal auf. Jaclyn strich noch auf dieselbe Art und Weise ihrer Haarsträhnen aus dem Gesicht wie zu der Zeit, als sie dreizehn war. Und in ihrem fröhlichen Lächeln lag immer noch jenes verletzte und gespielte Lächeln, das sie nach dem Unglück so oft gezeigt hatte.
Als sie das Krankenzimmer betrat, wich der Schatten der Besorgnis von ihrem Gesicht.
"Die Krankenschwester erzählte mir schon, dass du nicht verletzt bist."
"Ich wünsche dir auch einen schönen Tag."
"Ach komm schon, Gerry. Da bin ich gerade bei Oma und erhalte einen Anruf, dass du im Krankenhaus liegst. Ich bin natürlich sofort ins Auto gesprungen und hierher gefahren."
"Du warst bei Oma?"
"Es ist Sonntag. Warum nicht?"
"Trainierst du nicht am Sonntagmorgen?"
"Es sind Ferien, Schwester! Die Hälfte der Mannschaft besucht mit ihren Eltern irgendwelche Verwandten. Die andere Hälfte hat keine Lust."
"Also keine knackigen Männerkörper?"
Jaclyn lächelte süffisant. "Vielleicht in zehn Jahren. Sonntags trainiere ich die Kinder, gleich nach dem Gottesdienst. Aber ich bin nicht hergekommen, um mit dir über Rugby zu sprechen. Die Krankenschwester erzählte, dass du überfallen worden seist."
Geraldine schüttelte den Kopf. "Vermutlich nicht. Ich kann mich bloß nicht erinnern. Als ich eingeliefert wurde, war ich voller Blut, aber ich hatte keine Verletzungen. Das
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