Nacht der Dämonen
ihm.
Von allen Seiten wurde Tiamu gepufft und geschoben. Durch einen Tränenschleier hindurch versuchte sie zu erkennen, in welche Richtung sie sich halten musste, aber in diesem Gemenge mit den verzerrten Gesichtern, blutigen Händen und besudelten Waffen hatte sie keine Wahl. Obwohl sie mitgerissen und immer wieder in die eine oder andere Richtung gestoßen wurde, bemerkte sie doch, dass die Menschen vor ihr zurückzuweichen versuchten, wann immer sie ihr Gesicht sahen. Sie spürte Zorn in sich aufsteigen. Andere Leute! Sie waren wie ein Schwarm geistloser, wimmelnder, stechender Insekten, die verhinderten, dass sie an ihr Ziel gelangte. Doch selbst mit ihrem Stab der Macht konnte sie nicht alle vernichten …
Sie wischte ihre Tränen und den Schweiß vom Gesicht, da sah sie einen Brunnen ganz in der Nähe, in einer Ecke zwischen einem Denkmal und einem kleinen Schrein, etwas abseits von der Hauptmasse des Mobs. Sie empfand geradezu brennenden Durst, und es glückte ihr, sich aus der Menge zu lösen und zum Brunnen zu kommen. Sie erschrak zutiefst, als sie sich darüberbeugte, um daraus zu trinken.
»Mitra!«
Was sich im Wasser spiegelte, raubte ihr fast die Sinne: Ihre Augen glühten in dem gleichen unheimlichen Zauberlicht wie Saurebs, als er die Zamorier zurückgeschlagen hatte.
»O Mitra!« keuchte sie. »Habe ich durch meine Rachsucht meine Seele verdammt?«
Ihre Furcht hielt nur kurz an. Nichts scherte sie mehr. Darüber war sie hinaus. Ihr Geist war wie der des Mobs auf den Straßen – so gewalttätig und von Wut und Rachedurst erfüllt, dass sie gar nicht mehr Wirklich denken oder fühlen konnte, sondern nur noch das eine bezweckte: zu tun, was sie sich vorgenommen hatte. Den Zamorier finden – und töten!
Tiamu richtete sich am Brunnen auf. Das Gewühl hatte sie zurückgelassen und nun folgte sie einem Instinkt und rannte um die Palastseite herum. Viele Wege führten durch die Lustgärten und Haine, die hier gepflanzt worden waren, und viele Wege dorthin. Tiamu rannte, bis sie zu einem Torbogen kam. Durch ihn folgte sie der Gasse dahinter zu den Stallungen. Die Türen dort waren aus den Angeln gerissen und überall lagen Leichen herum. In einiger Entfernung brüllte und fluchte ein Trupp Belagerer. Tiamu stieg über die Leichen und rannte durch die Tür in den Küchenteil und die Speisekammer.
Sie fand die gesuchte Tür schnell und eilte die Treppe hinunter, dann weiter und durch dunkle Gänge, die nur die glühenden Enden des Stabes ein wenig erhellten. Vom Kerkerteil aus erreichte sie die Treppe, die sie ins Palastinnere bringen würde. Keuchend, den Stab fest an sich gepresst, hastete sie sie hoch, bis sie schließlich in einem Hauptkorridor stand. Zu beiden Seiten hoben sich Säulenreihen in die Schatten der Decke. Nur wenige Fackeln und Öllampen hingen noch an den Wänden. Die meisten waren heruntergerissen und auf den Boden geworfen worden. Verkohlte Flecken verrieten, wo sie niedergebrannt waren. Einige Wandbehänge und -teppiche waren angesengt.
Überall lagen Leichen herum: von Zamoriern, Bürgern und Stadtsoldaten. Gleichmütig stieg Tiamu über sie hinweg, als wäre sie ein Geist, der die Totenhalle besuchte. Nicht einmal ihre gelbglühenden Augen verrieten Grauen.
War sie vielleicht selbst tot? Oder am Sterben? Weshalb berührten diese schrecklichen Bilder sie nicht? Weshalb trafen sie sie nicht tief ins Herz wie der Fluch eines Gottes?
Plötzlich zuckte sie zusammen. Sie hörte Lärm, großen Lärm, aber wie weit entfernt – ja, als käme es von der Erdoberfläche, während sie ihm tief in der Hölle lauschte. Der Lärm war der von heftigem Kampf, von klirrenden und rasselnden Waffen, von Wut- und Schmerzensschreien.
Sie ging weiter, lauschte ihren eigenen leisen Schritten und dem Lärm des fernen Kampfes. Leichen überall. Außer ihr selbst nirgendwo eine Spur Leben.
Am Ende des Korridors stieg sie wieder eine Treppe hoch. Auch hier nichts als Leichen, einige davon von Priestern, die sie gekannt hatte und die als Geiseln festgehalten worden waren.
Diesmal erschrak sie, denn sie dachte an Sost, der vielleicht auch irgendwo tot herumlag.
»Sost …«, murmelte sie.
Aber wenn er noch lebte? Könnte sie ihn nicht finden? Nein – unmöglich! Doch sie würde es versuchen! Einen Augenblick war ihr ursprüngliches Ziel vergessen, ihr Hass verschwunden. Doch da durchzuckte sie einer dieser Erinnerungsgedanken, von denen sie nicht wusste, von woher sie kamen.
Wenn du erst begonnen
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