Nacht der Füchse
ihr.
Hauptmann Karl Müller, befehlshabender Offizier der Gehei men Feldpolizei auf Jersey, saß an seinem Schreibtisch im Sil vertide -Hotel in Havre des Pas und arbeitete sich durch eine dicke Akte. Sie war gefüllt mit anonymen Briefen, ohne deren Hinweise seine Dienststelle kaum Erfolge hätte vorweisen können. Es ging um die unterschiedlichsten Vergehen – Besitz eines Radios, Unterstützung eines geflohenen russischen Zwangsarbeiters oder Aktivitäten auf dem Schwarzmarkt. Mül ler wies seine Leute grundsätzlich an, die Verfasser solcher anonymen Schreiben ausfindig zu machen, die ihm in mancher Hinsicht nützlich sein konnten, wenn man ihnen drohte, sie gegenüber Freunden und Nachbarn bloßzustellen.
Im Grund ging es um Kleinigkeiten, nicht zu vergleichen mit den Dingen, die er im Gestapo-Hauptquartier an der Rue des Saussaies in Paris bearbeitet hatte. Müller gehörte nicht der SS an, war allerdings Parteimitglied, ehemals Oberinspektor der Kriminalpolizei in Hamburg. Leider war ihm eine junge Fran zösin während des Verhörs gestorben, ohne die Namen ihrer Komplizen preiszugeben. Da sie in den wichtigen Resistance Kreisen von Paris verkehrt hatte, war es ein schwerwiegender Fall gewesen. Nach Auffassung seiner Vorgesetzten hatte sein Übereifer Schaden angerichtet. Die Folge war, dass er auf diese entlegene Insel geschickt wurde, wo er nun begierig auf eine Gelegenheit wartete, sich zu bewähren, um dorthin zurückzu kehren, wo wirklich etwas los war.
Er stand auf. Obwohl er schon fünfzig war, schimmerte sein Haar noch dunkelbraun, und er war knapp einsachtzig groß. Er reckte sich und wollte gerade zum Fenster gehen, um nach dem Wetter zu schauen, als das Telefon klingelte.
»Ja?«
Das Knacken verriet ihm, dass der Anruf nicht von der Insel kam. »Hauptmann Müller? Hier spricht. Schröder, Hafenoffi zier von Granville.«
Zehn Minuten später stand Müller am Fenster und starrte in die Dunkelheit hinaus. Als es klopfte, drehte er sich um und setzte sich wieder hinter den Schreibtisch.
Die beiden Eintretenden trugen wie Müller Zivil, das war bei der Geheimen Feldpolizei üblich. Der Mann, der den Tisch als Erster erreichte, war breit und untersetzt und hatte ein slawi sches Gesicht mit abweisenden grauen Augen. Inspektor Willi Kleist, Müllers Stellvertreter, war ebenfalls von der Gestapo abgestellt und hatte wie Müller bei der Hamburger Polizei ge arbeitet. Die beiden kannten sich seit Jahren. Der zweite Mann war viel jünger und hatte blondes Haar, blaue Augen und einen Mund, der einen Hang zur Grausamkeit verriet; gegenüber Müller trat er aber beinahe unterwürfig auf. Feldwebel Ernst Greiser war vor sechs Monaten von der regulären Feldpolizei zur Geheimen Feldpolizei versetzt worden.
»Eine interessante Sache«, begann Müller. »Eben hat Schrö der aus Granville angerufen. Sieht so aus, als wäre ein Standar tenführer Vogel vom SD mit einer jungen Französin am Kai erschienen und wollte nach Jersey mitgenommen werden. Man hat die Frau an Bord der Victor Hugo genommen. Der Mann kommt mit Dietrich auf der S 92.«
»Aber warum, Herr Hauptmann?«, fragte Kleist. »Niemand hat uns verständigt. Was will er hier?«
»Das Schlimme ist«, fuhr Müller fort, »dass er auf besondere Vollmacht von Reichsführer Himmler reist. Schröder sagte, das Papier ist sogar vom Führer gegengezeichnet.«
»Mein Gott!«, rief Greiser.
»Also, Freunde, wir müssen vorbereitet sein.« Er wandte sich an Greiser. »Ernst, Sie wollten sich bei Ankunft des Kon vois in St. Helier ohnehin um die Passagierkontrollen küm mern, nicht wahr?«
»Jawohl, Herr Hauptmann.«
»Inspektor Kleist und ich werden Ihnen beistehen. Egal, was für Gründe der Mann für seinen Besuch hat, ich will dabei sein. Bis später.«
Die beiden gingen. Müller zündete sich eine Zigarette an und trat ans Fenster. Sein Herz hatte seit Monaten nicht mehr so schnell geklopft.
Kurz nach dreiundzwanzig Uhr trug Helen de Ville ein Tablett in ihr Zimmer. Dazu benutzte sie die Hintertreppe, die von der Küche ausging. Die einquartierten Offiziere hielten sich strikt an ihren Teil des Hauses und hatten diesen Aufgang noch nie benutzt. Trotzdem war sie vorsichtig. Auf dem Tablett stand nur eine Tasse. Alles war für eine Person angerichtet. Wenn sie ihr Abendessen oben einnehmen wollte, war das allein ihre Sache.
Sie betrat das Schlafzimmer und verschloss die Tür hinter sich, öffnete den Geheimgang hinter den
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