Nacht der Füchse
Gott!, dachte sie. Was für ein Tod! Meine eigenen Leute versuchen mich umzubrin gen! Sie klammerte sich an der Schnur fest und fragte keu chend: »Mussten sie denn das tun? Mit dem MG auf Schiffbrüchige schießen?«
»Cara, der Krieg ist eine böse Sache. Er macht alle verrückt. Können Sie durchhalten?«
»Meine Arme werden müde.«
Kurze Zeit später schwamm ein Luk vorbei, und Orsini holte es. »Kommen Sie, steigen Sie hinauf.«
Es war mühsam, aber sie schaffte es. »Und Sie?«
»Ich halte mich hier unten fest.« Er lachte. »Keine Sorge, ich bin nicht zum ersten Mal über Bord gegangen. Und ich habe immer Glück, also halten Sie sich an mich.«
Da musste sie an das Frühlingsfest und Zigeuner-Sara den ken und an die Prophezeiung von Feuer und Wasser, und be gann zittrig zu lachen. »Alles in Ordnung?«, fragte er.
»Bestens. Geht doch nichts über die Kanalinseln, wenn man um diese Jahreszeit Urlaub machen will. Jede Gelegenheit, im Meer zu baden.« Erst jetzt merkte sie entsetzt, dass sie Eng lisch gesprochen hatte.
Orsini schwamm neben dem Luk und starrte zu ihr auf und sagte in ausgezeichnetem Englisch: »Hatte ich Ihnen schon gesagt, dass ich in Winchester zur Schule gegangen bin? Mein Vater war der Ansicht, nur eine englische Public School könnte mir das Rückgrat geben, das ich im Leben brauche.« Er lachte. »Ach, es ist ein schönes Gefühl, Recht zu haben – denn ich wusste vom ersten Moment an, dass Sie irgendwie ungewöhn lich waren, cara.« Wieder lachte er, diesmal aufgeregt. »Was bedeutet, dass auch unser lieber Standartenführer Vogel das nähere Anschauen lohnt.«
»Bitte!«, sagte sie verzweifelt.
»Keine Sorge, cara. Meine Liebe zu Ihnen erwachte, als Sie durch die Tür des Hafenmeisters kamen. Ich mag Sie. Die an deren mag ich nicht – wer immer sie sind. Wir Italiener sind ein sehr einfaches Volk.«
Er hustete und versuchte, sich Öl aus dem Gesicht zu reiben. Sie berührte seine Hand. »Sie haben mir das Leben gerettet, Guido.«
Motorengeräusch zeigte an, dass sich ein Schiff in langsamer Fahrt näherte. Guido erblickte einen bewaffneten Fischtrawler, der zu den Begleitschiffen des Konvois gehörte. »Ja«, sagte er, »wahrscheinlich haben Sie Recht, Gott sei Dank.«
Kurze Zeit später ragte der Trawler hoch neben ihnen auf. Ein Netz hing außen an der Bordwand. Zwei oder drei deutsche Seeleute kletterten herab, griffen nach Sarah und zogen sie hoch. Guido kletterte hinterher und sackte auf dem Deck neben ihr zusammen.
Ein junger Leutnant kam die Treppe von der Brücke herab und eilte nach vom. »Guido, sind Sie das?«, fragte er auf Deutsch.
»Ganz der alte, Bruno«, antwortete Guido in derselben Spra che.
»Und Sie, Fräulein, geht es Ihnen gut? Wir müssen Sie in meine Kabine schaffen.«
»Bruno, Mademoiselle Latour spricht kein Deutsch«, sagte Guido auf Französisch. Er lächelte Sarah an und half ihr hoch. »Jetzt bringen wir Sie unter Deck.«
10
Als Sarah den dicken weißen Pullover über den Kopf zog, wurde an Brunos Kabinentür geklopft. Sie öffnete. Ein junger Matrose sagte in schlechtem Französisch: »Leutnant Feldt lässt ausrichten, dass wir gleich in St. Helier einlaufen.«
Er schloss die Tür, und sie ging zum Waschbecken und ver suchte ihr Haar zu verschönen, gab aber schnell wieder auf. Das Salzwasser hatte katastrophale Folgen: ihr Schopf war ein einziges strohgelbes Gewirr. Seufzend rollte sie die Marineho se bis zu den Knöcheln hoch.
Der Inhalt ihrer Handtasche, den sie noch in Orsinis See mannsmantel hatte stopfen können, hatte den Zwischenfall erstaunlich gut überstanden. Ausweis und andere Papiere wa ren natürlich nass geworden, und sie hatte sie zum Trocknen auf die Heißwasserleitungen gelegt. Nun steckte sie alles wie der ein und zog die Walther PPK unter dem Kopfkissen hervor. Die belgische Pistole, die Sergeant Kelly ihr gegeben hatte, befand sich im Koffer an Bord des Schnellboots. Sie saß auf der Kante der Koje und zog alte Tennisschuhe an, die einer der jungen Matrosen ihr überlassen hatte.
Es klopfte, und Guido trat ein. »Wie geht es Ihnen?«, fragte er auf Französisch.
»Gut«, antwortete sie, »bis auf das Haar. Ich sehe aus wie eine Vogelscheuche.«
Im Arm hielt er einen Marinemantel. »Ziehen Sie den an. Es ist ein feuchter, kalter Morgen.«
Als sie aufstand, polterte die Handtasche zu Boden. Dabei fiel ein Teil des Inhalts mit der Walther heraus. Guido ergriff die Waffe und sagte
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