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Nacht der gefangenen Träume

Nacht der gefangenen Träume

Titel: Nacht der gefangenen Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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sich. Nein, Frederic war nicht mehr da. Und Bruhns hatte recht, niemand würde Lisa und ihm die Geschichte glauben.
    Er glaubte sie sich selbst kaum.
    Frederic hob den Kopf. Nicht einmal am Himmel war etwas Schönes zu entdecken. Hier, über dem Albtraum-Schulhof, wirkten die Sterne wie die Spitzen scharfer Messer, und der Mond erschien Frederic halb tot und gänzlich verkehrt.
    Er sah Änna an, die neben ihm stand und zitterte wie er. Sie erwiderte seinen Blick. Und plötzlich dachte er wieder, was er schon im Abrisshaus gedacht hatte, als er sie gesucht und nicht gefunden hatte: Wenn dies das Ende war, hatte er so vieles versäumt. Gab es nicht noch etwas zu tun, ehe die Träume sie zerrissen? Eine letzte wichtige Sache?
    Die Gestalten streckten jetzt ihre Krallen aus. Er sah im Augenwinkel das kranke Mondlicht auf ihnen blitzen. Er sah, wie sie den Moment vor dem Ende hinauszögerten, um die Angst ihrer Opfer bis auf den letzten Tropfen auszukosten. Sie zögerten, ohne zu ahnen, was geschehen würde. Denn jetzt, jetzt streckte Frederic seine Hand aus, zog Ännas Kopf zu sich und küsste sie.
    Er hatte noch nie jemanden geküsst. Solche Dinge lernt man nicht in der Schule. Leider.
    Ihre Lippen fühlten sich warm und wirklich an in der Kälte der Albtraum-Nacht. Viel wirklicher als alles um ihn herum. Er schloss die Augen, schloss den geträumten Schulhof aus, die totblättrige Kastanie, die falschen Sterne – all das verschwand. Es gab nur noch ihn und Änna. Er fühlte, dass auch sie keine Ahnung vom Küssen hatte. Das war schade … irgendwie war ihre Nase im Weg. Oder war es seine? Man konnte allerdings den Kopf so zur Seite drehen, dass die Nasen nicht mehr störten. Seltsam, er wusste nicht mehr genau, wo eigentlich seine Lippen aufhörten und ihre anfingen; die Grenzen zwischen ihnen verschwammen. Ein komisches Gefühl, das durch jeder seiner Nerven hindurchlief. Und gleichzeitig schien es Frederic, als könnte er auf Ännas Lippen alle Worte lesen, die sie je gesagt hatte, und alle, die sie noch sagen wollte – solch ein Durcheinander von Worten! Er verstand ihren Sinn nicht; es waren zu viele, aber es war gut, dass er sie fühlte. Falls Änna nicht mehr dazu käme, sie auszusprechen.
    Und dann spürte er ihre Hand an seiner Wange, und es kam ihm wieder so vor, als wäre etwas zwischen der Hand und seiner Haut … An den Lippen hingegen schien es zu fehlen. Merkwürdig. Ans Küssen jedenfalls könnte man sich gewöhnen, dachte Frederic. Man sollte das üben. Doch nun, wo die Albträume sie töten würden, hätten sie wohl keine Zeit mehr dazu. Frederic tauchte aus dem Kuss auf, holte tief Luft und dachte: In Ordnung. Dann sollen sie uns jetzt in Stücke reißen.
    Aber das Heulen und Geifern der Träume war verstummt.
    Er öffnete die Augen. Sie waren fort. Der Schulhof war fort. Die verkehrten Sterne waren fort. Auch der kranke Mond. Alles.
    Änna und er standen in einem dunklen Kellerraum und vor ihnen fiel ein Rechteck aus Licht auf den Boden. Direkt über ihren Köpfen führte ein Schacht ins Freie. Zu ihren Füßen jedoch lagen Hunderte kleiner verknäuelter Pakete, kaum erkennbar.
    »Sie … sie haben sich komprimiert«, flüsterte Frederic.
    Änna sah einen Moment lang verwirrt aus. Dann lächelte sie.
    »Ich fürchte, wir haben sie ziemlich erschreckt«, sagte sie. »Sie hatten lange nichts Schönes mehr gesehen. Sag mal …« Sie zögerte.
    »Ja?«
    »Wusstest du es? Hast du es deshalb getan? Ich meine, was hast du dir dabei gedacht?«
    Frederic schüttelte den Kopf. »Ich wusste gar nichts. Und das Letzte, was ich gedacht habe, war: Wir sollten das üben. Aber nicht hier und nicht jetzt. Später. Hier und jetzt haben wir etwas anderes zu tun. Komm.«
    »Aber wie willst du diesen Schacht hochklettern?«
    Frederic knurrte. Darüber hatte er noch nicht nachgedacht.
    Murphys Gesetz Nummer sechs: Wenn du es geschafft hast, ein Rudel Albträume zu zähmen und daher nicht von ihnen zu einer Zigarre gepresst und geraucht zu werden, dann wirst du dich sicher in einem Keller wiederfinden, der keinen Ausgang hat.
    »Frederic!«, wisperte Änna. »Etwas bewegt sich dort!«
    Ja, etwas bewegte sich im Schacht. Es schlängelte sich zu ihnen herab. Zuerst erschrak Frederic, doch dann trat er näher. Es war das Ende einer Strickleiter. Und jetzt war es so tief, dass er es zu fassen bekam. Er legte den Kopf in den Nacken und sah hinauf. Eine Weile blinzelte er ins Licht wie ein Maulwurf. Dann erst erkannte er

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