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Nacht der gefangenen Träume

Nacht der gefangenen Träume

Titel: Nacht der gefangenen Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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Sie war nur einen Spaltbreit offen, doch es reichte, um einen schmalen Streifen gelblichen Lichts in die Dunkelheit fallen zu lassen. Frederic zögerte eine Sekunde lang. Die Träume waren schon ganz nahe, er hörte ihren rasenden, keuchenden Atem: hechelnd, heulend, geifernd und mordlustig. Es gab nur einen Ausweg: Er stieß die Tür auf, zog Änna mit sich hindurch und warf sie wieder zu.
    Kaum hatte er das getan, da hörte er außen einen Schlüssel knirschen. Jemand hatte sie eingeschlossen. Die Gestalten im Flur schienen nicht mehr zu existieren.
    Im Zimmer herrschte absolute Stille. Alles, was man hörte, war das Kratzen eines Füllfederhalters auf Papier. Das gelbliche Licht im Raum kam von einer gedämpften Schreibtischlampe her. Am Schreibtisch, vor dem Nacht-besternten Fenster, saß ein Junge. Er mochte ungefähr so alt sein wie Frederic und Änna, doch genau konnte man es nicht sagen, denn er saß mit dem Rücken zu ihnen, tief gebeugt über das, was er schrieb.
    Frederic ging auf ihn zu.
    »Hallo«, sagte er. Seine Stimme klang hohl in der Nacht.
    Der Junge sah auf und drehte sich um. Es war derselbe Junge, den sie auf den Fotos im Abrisshaus gesehen hatten, dieselbe hagere Gestalt, dasselbe angespannte Gesicht. Jetzt blinzelte dieses Gesicht verständnislos. »Was tut ihr hier?«
    »Wir … sind irgendwie in diesen Traum geraten«, sagte Änna.
    »Traum?« Der Junge schüttelte den Kopf. »Seltsam. Ihr könnt nicht hier sein. Die Tür ist zu. Er hat mich wieder eingeschlossen.«
    Frederic versuchte, einen Blick auf den Schreibtisch zu erhaschen. Dort lagen ein aufgeschlagenes Heft und mehrere Bücher. »Was machst du da, mitten in der Nacht?«
    »Ich übe«, antwortete der Junge. »Lateinvokabeln.« Er wandte sich wieder seinem Heft zu. »Wer immer ihr seid, stört mich nicht. Morgen schreiben wir eine Arbeit.«
    »Du übst mitten in der Nacht?«, fragte Änna.
    Der Junge nickte. »Ich werde üben, bis er die Tür aufschließt. Es ist das Wichtigste, zu lernen. Das Wichtigste, gut zu sein. Diesmal werde ich der Beste sein. Dann wird er sich freuen.«
    »Wer?«, fragten Frederic und Änna gleichzeitig.
    Der Junge sah sie an, als wäre das die dümmste Frage, die er sich vorstellen konnte. »Na mein Vater.«
    »Und was sagt deine Mutter dazu, dass du mitten in der Nacht noch lernst?«
    Jetzt schüttelte der Junge am Schreibtisch ungeduldig den Kopf. »Ihr und eure Fragen. Sie ist tot, was soll sie sagen? Ich bin alles, was meinem Vater geblieben ist. Deshalb werde ich gut sein. Ich werde ihn stolz machen. Geht jetzt.«
    In diesem Moment steckte jemand einen Schlüssel in die Tür, und erst als Frederic die Tür noch einmal ansah, verstand er: Es war nicht nur der Junge von den Fotos aus dem Abrisshaus. Es war das Abrisshaus, in dem sie sich befanden . Der Schlüssel drehte sich ganz herum, die Tür öffnete sich und ein älterer Mann ließ seinen strengen Blick durchs Zimmer schweifen.
    »Mit wem redest du, Bork?«, fragte er.
    »Mit niemandem«, antwortete der Junge am Schreibtisch schnell.
    Bork. Bork Bruhns.
    »Du lügst«, sagte der Mann in der Tür und seufzte. »Du lügst wieder. Du wirst schon noch sehen, wohin dich das eines Tages bringt. Du bist ein schlechter Mensch, mein Sohn. Nicht einmal deine Noten sind gut genug.«
    Frederic ging auf die Tür zu. Offenbar konnte der Mann ihn und Änna nicht sehen. Sie schlüpften an ihm vorbei, hinaus in den Flur … und standen kurz darauf im Schulhof. Die Szene hatte schon wieder gewechselt. Es war immer noch Nacht.
    Vor ihnen, unter der Kastanie, stand ein Sarg. Mit Frederic und Änna warteten noch zwei Leute neben dem Sarg: der Junge von eben, der sich nun in einen jungen Mann verwandelt hatte, und ein Pfarrer. Der Sarg war offen, und Änna drängte sich enger an Frederic. Er beugte sich vor, um in den Sarg zu sehen.
    Darin lag der Mann, der eben noch in der Tür gestanden hatte.
    »Es war sein Herz«, sagte der Pfarrer. »Sein Herz hat ihn umgebracht. Sein gebrochenes Herz.«
    »Amen«, sagte der junge Mann. Bork.
    Da setzte sich der Tote im Sarg so plötzlich auf, dass Frederic zusammenzuckte, und zeigte mit einem anklagenden spitzen Finger auf seinen Sohn.
    »Er war es!«, zischte er. »Er hat mich umgebracht! Er hat mein Herz gebrochen. Ich habe immer gehofft, ich habe ihm alles ermöglicht, die besten Schulen! Und was ist er geworden? Lehrer. Versager. Versager! Versager!« Er hieb mit der weißen Faust gegen den Rand des Sargs. »Glaub nicht, ich

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