Nacht der Vampire
zweiten, kleineren. Dann trat sie in die Mitte, schloß die Augen und versuchte, sich an die Zauberformel aus den Büchern zu erinnern. Es gelang ihr nicht.
Nun war es genug. Wenn sie zu lange auf dem Dachboden blieb, wurde sie bestimmt entdeckt. Welche Folgen das haben mochte, wußte sie nicht. Hastig nahm sie den Pelzgürtel ab, zog sich wieder an und ging auf Zehenspitzen nach unten.
In jener Nacht hatte sie einen Traum. Sie träumte, daß sie erwachte und das Licht des Vollmondes direkt in ihre Augen fiel. Alles war scharf und freundlich, und es flößte ihr keine Angst ein, daß der Mond sie rief. Möglichst leise stieg sie aus dem Bett und ging aus ihrem Zimmer. Durch den mondhellen Flur schlich sie über die Hintertreppe in die Küche und von dort auf die Veranda. Der Mond’ war so hell wie das Tageslicht. Sie sah eine Eule im Baum und einen Hasen auf der Wiese.
Sie hatte ein unbändiges Verlangen zu laufen ...
Erst als sie im nahen Wald war, hielt sie kurz an. Sie zerrte sich den Pyjama vom Leib, der sie plötzlich fürchterlich beengte. Als sie aus der Hose stieg, stolperte sie und fiel hin. Sie bekam einen wahren Freudenkoller und wälzte sich im Gras und im welken Laub herum. Und plötzlich begann sie wieder zu laufen, dicht über der Erde. Leichtfüßig und selig trabte sie dahin . . .
Erst viel später und völlig erschöpft fand sie ihren Pyjama wieder, zog ihn an und kehrte leise zurück ins Haus.
Was für ein merkwürdiger Traum, dachte sie am Morgen.
Wann hatte sie ihn zum erstenmal geträumt? Mit zehn Jahren? Älter als elf war sie bestimmt nicht gewesen. Am nächsten Nachmittag ging sie wieder auf den Dachboden. Nachts kehrte ihr Traum zurück. Und auch in der nächsten Nacht. Er nahm realistischere Züge an als die Wirklichkeit, und in ihr wuchs die Gewißheit, daß es überhaupt kein Traum war. Es war wie eine Sucht. Sie wagte nicht, ihrer Großmutter oder sonst jemandem davon zu erzählen, damit man ihr dieses wunderbare Erlebnis nicht wegnahm.
Aber so köstlich sie diesen Traum fand, so fürchtete sie sich doch auch davor. Sie wußte, daß manche Genüsse mit gutem Grund verboten waren. Dieser Traum mochte ein solcher verbotener Genuß sein. Und einmal in einer Winternacht, als sie elf Jahre alt war . ..
Als sie zu sich kam, lag sie nackt im Schnee. Die Welt war immer noch vom flirrenden Mondlicht durchtränkt, der Zauber hatte sich noch nicht gänzlich verflüchtigt. Keuchend und fröstelnd lag sie da, starrte das zerfleischte Kaninchen in ihren Händen an und spürte den Blutgeschmack im Mund.
Schluchzend kniete sie davor. Sie schleuderte das tote Tier mit aller Kraft von sich. Dann versuchte sie, sich das Blut mit Schnee abzuwaschen. Sie fand ihren Pyjama und kehrte ins Haus zurück. Sie ging ins Schlafzimmer. Verwirrt starrte sie das Blut an ihren Händen an, ehe sie es abspülte. Dann fiel sie ins Bett und schlief sofort ein.
Am nächsten Tag erschien ihr alles wie eine wüste Fantasie, und sie schwor sich: nie, nie wieder .. .
Über drei Jahre hielt sie ihren Schwur. Eine Zeitlang quälte sie die kindliche Angst, daß man ihre nächtlichen Abenteuer entdecken und sie dafür bestrafen würde. Schuldgefühle machten sich geltend. Allmählich aber bekam sie die Wirklichkeit wieder in den Griff und erkannte, daß es sich nur um eine Reihe wiederkehrender Träume gehandelt haben konnte. Und schließlich schwand selbst diese schwache Erinnerung an die Träume.
Im Sommer ihres vierzehnten Lebensjahres entsann sie sich kaum mehr an ihre Besuche auf dem Dachboden und die merkwürdigen Erlebnisse vor drei Jahren. Sie dachte in der warmen Sommernacht gar nicht daran, als sie träumte, daß sie vom grellen Licht des Mondes erwachte.
Sie blinzelte und schüttelte den Kopf. Das Mondlicht wich nicht aus ihren Augen, aber es störte sie nicht. Zum erstenmal seit vielen Monaten fühlte sie sich leicht und froh. Schwerelos stieg sie aus dem Bett, lief die Treppe hinunter und ging durch die Küche zur Veranda. Barfuß und nur mit einem dünnen Nachthemd bekleidet wanderte sie durch das kühle Gras zum Wald. Der Mond schien ihr immer noch in die Augen. Sie vermochte kaum etwas zu sehen.
Sie gelangte zur Waldlichtung. Durch das Geflecht schwarzer Zweige blickte sie zum Mond auf. Tausend unerfüllte Sehnsüchte, die sie im letzten Jahr gequält hatten, wurden wach. Sie hörte sich selbst stöhnen und keuchen. Dann zog sie ihr Hemd über den Kopf und schleuderte es fort.
Zuerst stand sie
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