Nacht der Vampire
kurz oder lang wird ihn einer erschießen.«
Und dann machte die Stimme hinter Roxannes Rücken eine Bemerkung, über die sie fürchterlich erschrak und die offensichtlich auf sie gemünzt war.
»Und wenn es eine Silberkugel kostet«, sagte die Stimme.
Sanscoeurville war eine abergläubische Kleinstadt, in der sich verschiedene fixe Ideen hartnäckig hielten. Eine davon besagte, daß die Sanscoeurs ›Wolfsblut‹ in den Adern hätten. Roxanne wußte, daß diese alten Geschichten durch das angebliche Auftauchen des Wolfs neue Nahrung erhalten mußten.
Beinahe drei Monate gab es für sie keine Träume, kein mitternächtliches Laufen — oder was immer es war. Roxanne hatte Angst. Als sie nach so langer Abstinenz der Versuchung nicht länger widerstehen konnte, verzichtete sie zumindest auf die Illusion des Jagens und Tötens.
Ein weiterer Winter verging, und das nächste Frühjahr kam. Die Gerüchte über den Wolf waren nicht verstummt, aber Roxanne fürchtete sich nicht mehr. Sie wußte, daß die Bauern sie das Wolfmädchen nannten und sie in ihrem Aberglauben allen Ernstes mit einem reißenden Tier gleichsetzten. Trotzdem war ihr nichts geschehen, und keiner hatte mit einer silbernen Kugel auf sie geschossen. Sie fühlte sich sicher. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie sogar das Gefühl, ein gewisses Ansehen zu genießen. Wenn sie jetzt Bemerkungen über Wölfe hörte und die Leute sie vielsagend ansahen, lächelte sie nur. Sie spielte die Rolle, die ihre Feinde ihr zugeteilt hatten. Sie war das Wolfmädchen.
Und nachts lief sie durch die Wälder, sog die Luft ein, machte Jagd auf frisches Blut und zartes Fleisch, wich den Fallen aus, griff sich ein Kaninchen, eine Ziege, einen Wurf junger Ferkel. Und einmal im Morgengrauen, nachdem sie ein brüllendes Opfer gerissen und verzehrt hatte und sich in einem Bach und später nochmals in ihrem eigenen Badezimmer gereinigt hatte . . .
Sie war kaum eingeschlafen, als ihre Großmutter zu ihr ins Zimmer stürzte.
»Steh auf! Du hast keine Minute zu verlieren!«
»Großmutter«, sagte sie schlaftrunken, »was —«
»Verstehst du nicht? Du mußt augenblicklich fort! Sonst erschlagen sie dich!« Halb angezogen wurde sie in den Mercedes geschoben, den ein bezahlter Mann fuhr. Er war es, der ihr zu ihrem Entsetzen erzählte, was sie angeblich getan haben sollte.
»Irgend so’n Knirps, ein Bauernjunge, kaum mehr als zwei bis drei Jahre alt«, sagte der Mann ungerührt, »ist vor Morgengrauen aus dem Bett geklettert und aus dem Haus gelaufen. Vielleicht hat ein alter Keiler ihn so zugerichtet. Schwer zu sagen. Der Bauer sagt, er hat etwas gehört und ging nachsehen. Und er sagt, draußen trieb sich der große graue Wolf nun. Nimm mir’s nicht übel, aber du weißt doch, was die Leute hier von dir halten . . .«
Aber es war doch bloß ein Scherz, ein Spiel, ein Traum, nichts weiter, wehrte sie sich stumm. Ich bin ein Mensch, ein junges Mädchen, aber doch kein Werwolf!
Dann fiel ihr das nächtliche Erlebnis wieder ein. Sie hatte gejagt, ein junges Opfer gewittert, das ganz anders als alle bisherigen gerochen hatte, und hatte es angesprungen. Sie hatte ihre Beute immer nur am Geruch erkannt und später daran, wie sie sich an ihrem Kiefer und auf der Zunge anfühlte. War es denkbar, daß sie tatsächlich . . .
Ihre Großmutter hatte sie in ein Mädcheninternat geschickt, das von einer alten Bekannten geleitet wurde. Roxanne war unter schwerer Schockwirkung dort angekommen.
Sie nahm sich vor, nie wieder vom Laufen, Jagen und Erlegen zu träumen. Und auch wenn sie annehmen mußte, daß sie für den Tod des kleinen Jungen nicht verantwortlich war, wagte sie sich nie mehr nach Sanscoeurville.
Manchmal besuchte ihre Großmutter sie. Beim ersten Mal fragte sie Roxanne streng nach ihren Träumen aus. Später aber unterließ sie jede Anspielung auf den Vorfall. Drei Jahre danach starb sie. Roxanne wollte nichts von Sanscoeur wissen und ließ Haus und Grundstück durch den Anwalt der Familie verkaufen.
Sie besuchte ein College in Columbia und war eine gute Schülerin. Anschluß fand sie wenig. Sie war schüchtern, obwohl sie endlich erkannt hatte, daß sie sich für ihr Aussehen nicht zu schämen brauchte, sondern im Gegenteil sogar ausgesprochen anziehend wirkte. Im letzten Collegejahr bekam sie Angst, sie könnte sich unabsichtlich in einen Wolf verwandeln. Inzwischen hatte sie so viel gelesen, daß sie vom Vorhandensein solcher Wahnvorstellungen wußte. Ihr
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