Nacht der Vampire
Roxanne. Die gnädige Frau war eine hagere, große, elegante Frau mit einem Gemmengesicht gewesen. Immer hatte sie hoheitsvoll gelächelt, immer etwas fremd gewirkt. Am schlechtesten erinnerte sich Roxanne an ihren Vater. Sie hatte den Eindruck eines dunklen, hübschen Mannes, der viel auf Reisen war. Sie wußte, daß er irgendwo in der Karibischen See gestorben war, als sie erst sechs Jahre alt gewesen war. Und die große, blonde Maddy war zwei Jahre später aus ihrem Leben geglitten. War sie damals gestorben? Vermutlich gab es irgendwelche Leute, die Roxanne genau sagen konnten, was aus ihren Eltern geworden war. Aber das alles lag so weit zurück. Sie hatte keine Lust, in der Vergangenheit zu wühlen. Vielleicht auch, weil die Vergangenheit größtenteils unerfreulich war.
Die Sanscoeurs hatten wenige Freunde in der Stadt, die nach ihnen benannt war. Roxanne hatte das Gefühl, daß die Leute dem alten Haus absichtlich auswichen. Warum das so war, konnte sie nicht sagen. Ein paar Besucher hatte es allerdings immer gegeben, sowohl vor als auch nach dem Tode ihrer Eltern. Die Johnsons und die Douglases waren ab und zu auf Sanscoeur erschienen. Roxanne erinnerte sich an Duffy Johnson, der damals ein gelangweilter Teenager gewesen war und aus Gutmütigkeit mit ihr gespielt hatte, während die Erwachsenen ihren Tee oder Portwein tranken.
Andere Kinder waren Roxanne seit jeher eine Qual gewesen.
»Seht euch die an — das Großohr!«
»Seht euch das Schlitzauge an! He, Schlitzauge!«
»Daß sie dich nicht erwischt! Sie hat Krallen! Richtige Krallen!«
»Und schau doch nur, ihre Zähne! Die frißt dich auf!«
»He, Großohr!«
In der unmittelbaren Umgebung von Sanscoeur wohnten keine Kinder. Als kleines Kind sah sie daher selten Gleichaltrige, höchstens, wenn sie ab und zu mit ihren Eltern zur Stadt fuhr. Und dann starrte sie sie schüchtern und begeistert an und hätte gerne mit ihnen gespielt. Aber Kinder sind nicht nur demokratisch, sie sind auch grausam. Sie war kaum älter als drei Jahre, als sie zum erstenmal verspottet wurde.
»He, Schlitzauge!«
»He, Großohr!«
»Die sieht aus wie ein Fuchs!«
»Sie ist ein Sanscoeur-Wolf! Sie ist verflucht! Alle Sanscoeurs sind verflucht, das weiß doch jeder!«
Eine abergläubische Überlieferung berichtete, daß die Sanscoeurs vor zwei Jahrhunderten vor dem Fluch eines Priesters, der ihnen ihre eigenen Zauberkünste an den Hals gewünscht hatte, nach Amerika geflüchtet seien.
Schließlich entdeckten mehrere größere Kinder das Haus Sanscoeur und Roxanne, die dort wohnte. Von wohliger Angst und Abenteuerlust getrieben, kamen sie näher. Roxanne litt unter ihrer Neugier.
»Seht doch! Das Wolfmädchen!«
»Schau ihr nicht in die Augen!«
»Pah, ich fürchte mich nicht vor ihr! Wirf einen Stein nach ihr!«
Erschrocken und verwirrt zog sie sich zurück. Sie begriff nicht, warum sie anders war als die anderen Kinder, und warum sie von ihnen gehaßt und vielleicht sogar gefürchtet wurde.
Die Schule war vom ersten Tag an eine einzige Qual. Sie mußte an der Landstraße auf den Schulbus warten. Ein Dutzend anderer Kinder wartete ebenfalls dort und hänselte sie pausenlos. Dann folgte die lange Fahrt, an die sich die endlosen Schulstunden anschlössen. Zum Glück gab es selbst in Sanscoeurville das eine oder andere vernünftige Kind, das ihr das Leben etwas erleichterte. Mit der Zeit machte es auch den Kindern keinen großen Spaß mehr, ihre Waffen immer nur gegen ein und dasselbe Opfer zu richten. Trotzdem bedeuteten die Schuljahre Kummer, Angst und Zurücksetzung für sie.
Nach dem Tod ihrer Eltern hatte sie längst die Hoffnung auf einen festen Platz unter den Menschen aufgegeben. Sie hatte eingesehen, daß sowohl die Erwachsenen als auch die Kinder sie ablehnten. Sie war ein intelligentes Kind, und wenn sie auch nicht jede aufgefangene Bemerkung wörtlich verstand, begriff sie doch, worum es ging.
»Also, ich würde ja etwas gegen die Ohren unternehmen. Haben die Leute denn noch nie etwas von Schönheitschirurgie gehört?«
»Und diese Zähne! Jeder Zahnarzt könnte sie in wenigen Minuten fassonieren.«
»Also, ich finde sie lustig — wie ein kleines wildes Tier!«
»Das schon, aber würdest du erlauben, daß dein Sohn so etwas heiratet?«
Gelächter. Das Gelächter dröhnte in den Ohren, brannte in den Augen und zwang ein Kind, in ohnmächtiger Wut das Weinen zu unterdrücken.
»Man weiß ja, woher solche Mißbildungen kommen. Inzucht, das ist das
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