Nacht der Versuchung
zurückfallen.
»Bitte, versuchen Sie alles … alles …« Margit sah den Chirurgen aus bettelnden Augen an. Es war fast, als wollte sie die Hände falten. »Bitte!«
»Wir werden unser ganzes Wissen mobilisieren, gnädige Frau. Glauben Sie mir.« Professor Mayfelder sah an Margit vorbei in den tief verschneiten Klinikgarten. »Aber die letzte Entscheidung liegt in der Hand eines Höheren. Dienstag früh … das ist eine Stunde, in der selbst hartgesottene Mediziner erkennen, daß hinter ihnen Gott stehen muß, und sie auch bloß Menschen sind.«
»Und … und Sie haben Hoffnung, Herr Professor?«
»Ein wenig …« Aber während er es sagte, sah Professor Mayfelder aus dem Fenster in den Garten. Er konnte schlecht in fragende Augen lügen.
*
Der Wegflug Fernandos von der Insel Baleanès mit einem Hubschrauber der Polizei löste bei der Familie Juan Cortez Panik und großes Geschrei aus. Während Estrella sich weinend in ihre Kammer einschloß und auf alles Klopfen, ja sogar auf die Drohung, die Tür werde eingeschlagen, nicht antwortete, rannte der Fischer Juan herum, von Haus zu Haus, eine Axt in der Hand, und verkündete mit brüllender Stimme, daß er den Schänder der Ehre seiner Tochter umbringen werde, jawohl, mit seinen Händen, mit der Axt. Den Kopf würde er ihm spalten bis zum Kinn. Juan machte diese Runde durch das Dorf, um allen zu zeigen, wie sehr er auf die Sittlichkeit hielt und welche ungerechte Schande über seine Familie gekommen war. Er wurde bedauert, und man gab ihm recht, wenn er Fernando den Tod androhte.
Dr. Lopez war nach drei Tagen wieder soweit nüchtern, daß er den Besuch Juans empfangen konnte. Er saß vor dem Haus, reinigte seine blitzenden Arztbestecke mit einem Lappen und legte ab und zu seinen schweren Kopf zurück an die Wand, um tief Luft zu holen.
Es geht bald zu Ende, dachte er dann dabei. Ich saufe mich zu Tode. Aber was hat man denn noch vom Leben außer dem Wein?
»Don Lopez!« brüllte Juan, als er vor dem Arzt stand, und fuchtelte mit seiner Axt herum. »Sie haben alles gewußt. Sie haben Estrella und Fernando gewähren lassen. Sie haben mir gesagt, daß er sie einmal heiraten wird. Und nun ist er weg! Was soll ich tun? Ich will ihn umbringen!«
»Fahr hinüber nach Valencia, melde dich bei der Polizei, leg deine Axt auf den Tisch und sage, daß du ihm den Schädel einhauen willst. Sie werden dir Fernando bestimmt herausgeben.«
Dr. Lopez legte die blitzenden Zangen und Pinzetten auf das Putztuch und suchte in seiner Rocktasche nach dem Rest einer Zigarre. Juan starrte den Arzt mit blutunterlaufenen Augen an, dann setzte er sich an den Tisch und begann plötzlich zu weinen.
»Diese Schande!« jammerte er. »Diese Schande, Don Lopez! Meine Familie wird man meiden wie Aussätzige. Was soll aus Estrella werden? Kein ehrbarer Mann wird sie mehr zur Frau nehmen. In ein Hurenhaus nach Valencia oder Barcelona kann sie gehen. Oh, diese Schande! Ich bringe mich um!«
»Erst Fernando, dann dich, du willst wohl alles umbringen, was?« Dr. Lopez rollte die Arztbestecke in das Putztuch und schob die Rolle in eine alte, ausgeblichene Ledertasche. »Was ist denn schon geschehen? Warum müßt ihr den Himmel einreißen, wenn euch die große Zehe juckt?«
»Don Lopez!« stöhnte Juan. »Estrella ist keine große Zehe.«
»Mit Fernando werden noch große Dinge geschehen.« Dr. Lopez hatte den Zigarrenstummel gefunden und brannte ihn an. »Man wird ihn operieren, und dann wird er gar nicht mehr wissen, daß es eine Estrella gegeben hat.«
»Ich zerhacke ihn!« stöhnte Juan dumpf.
»Das wäre ungerecht, Juan. Fernando war ein kranker Mann. Als du ihn aus dem Meer fischtest, war er ein Nichts. Ein atmender Körper, weiter nichts. Verstehst du das?«
»Nein, Don Lopez.«
Dr. Lopez winkte ab und blies den Rauch von sich gegen den blauen Himmel. »Erklären wir es anders: Fernando hatte sein Gedächtnis verloren. Er wußte nicht mehr, wer er war. Jetzt operiert man ihn, und er bekommt sein Gedächtnis wieder, er weiß wieder, wer er ist. Aber er wird durch diese Operation alles vergessen, was er als Fernando getan hat.«
»Auch Estrella?«
»Auch sie!«
Juan sprang auf und nahm seine Axt. »Meine Tochter kann man nicht vergessen! Sie wissen, wo Fernando ist, Don Lopez?«
»Ich nehme an, in Valencia.« Dr. Lopez sah übers Meer. »Ich warte ja selbst auf eine Nachricht. Irgend jemand wird schon kommen und uns sagen, was aus ihm geworden ist.«
Und so war es. Am zehnten Tag
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