Nacht der Versuchung
Tag betete Doña Cortez vor dem Marienbild, am sechsten Tag machte Juan sein Boot klar für große Fahrt und fuhr hinüber nach Valencia.
Estrella war verschwunden. Die Polizeibeamten waren zu Juan höflich, aber sehr verlegen. Nach den Verhören und Protokollen, und nachdem man Estrella die Wahrheit gesagt hatte, war sie zum Mädchenheim der Schwestern vom Heiligen Herzen gebracht worden, wo man ein Bett für sie bereitstehen hatte. In der Nacht war sie ausgebrochen, durchs Fenster, dessen Scheibe sie zerbrach, denn das Fenster war verriegelt. Als man am Morgen das Fehlen Estrellas merkte und die Polizei alarmierte, waren alle Spuren schon verwischt.
»Wo soll man sie suchen, Señor?« fragte der Polizeikommandant ziemlich hilflos. »Wir sind vollkommen angewiesen auf Fingerzeige der Bevölkerung.«
Juan Cortez benahm sich tapfer. Zunächst hatte er große Lust, mit dem Kopf gegen die Bäuche der Polizisten zu rennen, das Zimmer zu zertrümmern und zu brüllen wie ein verwundeter Stier – aber dann sah er ein, daß dies alles keinen Sinn hatte, Estrella nicht zurückbrachte und das Schicksal nicht änderte, das über seine ehrbare Familie gekommen war.
»Wenn ihr sie findet, ruft mich sofort«, sagte er dumpf und faltete die Hände. »Ich bleibe solange hier, ich such mir Arbeit in der Fischfabrik. Ich gehe nicht eher zur Insel zurück, bis ich Estrella wiederhabe. So wahr es einen Gott gibt, Señores.«
Aber niemand sah Estrella wieder.
*
Die Operation fand, wie festgesetzt, am Dienstagmorgen statt.
Ab 9 Uhr wartete das Team der Hirnchirurgen auf seinen Chef Professor Mayfelder. Im Vorbereitungsraum des OP war Blankers bereits auf den Tisch gelegt worden. Sein Körper war abgedeckt mit angewärmten grünen Laken, der Schädel kahlrasiert und die Stelle, an der die Schädeldecke geöffnet werden sollte, mit einem roten Kreis bezeichnet. Der Anästhesist saß schon hinter Blankers und kontrollierte Atmung, Puls und Herztätigkeit. Die Narkose war eingeleitet.
Zwei Zimmer weiter stand Professor Mayfelder mit seinem Oberarzt, Dozent Dr. Willkens, noch einmal vor dem Leuchtkasten und betrachtete die vor der Mattscheibe eingespannten Röntgenbilder. Außer der Eindruckwölbung der eingedrückten Schädeldecke war nichts zu erkennen, und doch verbarg sich in der grauschimmernden, im Röntgenbild glasig-gallertigen Hirnmasse ein winziger Fremdkörper, der einen Nervenstrang abklemmte und Klaus Blankers die Erinnerung nahm.
»Wir werden an zwei Stellen suchen müssen«, sagte Professor Mayfelder langsam und überdachte Wort für Wort. Denn was er jetzt sagte, war der Marschplan der Hirnchirurgen, und jedes einzelne Wort galt soviel wie ein Eingriff ins Gehirn. »Die Aufnahmen zeigen ganz deutlich zwei große und einen kleineren Kontusionsherd an der Hirnbasis. Der ›Contrecoup‹ ist klar. Der eine große Herd sitzt im Stirnlappen und drückt auf das Persönlichkeitszentrum. Der andere große Herd ist verhältnismäßig harmlos und überdeckt leicht den Präcuneus zur Körperfühlsphäre. Aber hier, der kleine Flecken am Gyri occipit. lat. macht mir den größten Kummer. Hier könnte die Wurzel der Erinnerungslücke sein. Wir wissen, daß Verletzungen am Gyri occipit. lat. zur sogenannten Seelenblindheit führen.« Professor Mayfelder knipste das Licht im Leuchtkasten aus. Das Hirn von Blankers war jetzt nur mehr eine dunkle Fotoplatte. »Wir gehen zuerst zum Gyri, lieber Willkens. Ich möchte vermeiden, daß wir die ganze Schädeldecke trepanieren.«
Im OP kam Bewegung in die weißen Mäntel, als der Chef mit dem 1. Oberarzt in das Vorbereitungszimmer trat. Der Narkosearzt nickte, als Professor Mayfelder zu ihm blickte. Alles in Ordnung. Ein Blick zur OP-Schwester. Auch alles klar. Das Instrumentarium für alle erdenklichen Vorfälle lag bereit: Giglisäge, elektrischer Bohrer, Stillescher Handbohrer, Lüersche Hohlmeißelzange zur schrittweisen Abknabberung des Knochenlückenrandes; das Elektrokoagulationsgerät, mit dem die feinen, seidenhaarartigen Äderchen im Hirn verschmort und so die Blutungen zum Stehen gebracht werden; feinste Sonden und Pinzetten, atraumatische Nadeln, Seide zur Gefäßumstechung, große Glasbehälter mit Tupfern, Gazestreifen, angewärmter Mull.
Um 9.20 Uhr stand Professor Mayfelder am Kopf von Klaus Blankers, ließ die Lage des Schädels verändern und machte den ersten runden Hautschnitt. Der sogenannte Lappen wurde fixiert, der später wieder übergedeckt wurde und die Wunde
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