Nacht der Versuchung
für die man unter den spanischen Gastarbeitern gesammelt hatte. Außerdem hatte sie noch 200 Mark übrigbehalten, um sich in Köln ein billiges Pensionszimmer zu mieten und nicht zu verhungern.
So kam sie in der Domstadt an, in ihrem Sonntagskleid, die alte Spitzenmantilla über den schmalen Schultern, ein Kunstlederköfferchen in der Hand und in der Rocktasche einen Zettel, auf den ein der deutschen Sprache schon kundiger Gastarbeiter geschrieben hatte:
»Bite, wo gäts es zum Hosbital für Kopf? Hellfen si mich weitter.«
In der großen, modernen gläsernen Bahnhofshalle des Kölner Hauptbahnhofes zeigte sie diesen Zettel einem Mann in Uniform, von dem sie annahm, daß er ein Polizist sei. Aber es war nur ein Postsekretär. Wer kennt sich schon aus bei den deutschen Uniformen?
Der Postsekretär las den Zettel, lächelte freundlich und sagte: »Da müssen Sie mit der Straßenbahn nach Lindenthal fahren. Verstehen Sie mich?«
Estrella schüttelte den Kopf.
»Nix capito?« Der Postsekretär war im vorigen Sommer in Italien gewesen, mit Touropa, in Rimini, und sprach nun mit allen italienischen Worten, die er behalten hatte, eindringlich auf Estrella ein. Als er sah, daß sie ihn nur hilflos anstarrte, nahm er sie an der Hand, führte sie aus dem Bahnhof zur Straßenbahnhaltestelle, wartete, bis die Linie nach Lindenthal hielt, schob Estrella in den Wagen und hielt dem Schaffner den Zettel hin.
»Zur Neurochirurgischen?« Der Schaffner las den Zettel, sah Estrella an und nickte. »Machen wir, Mädchen. Nix deutsch? Nix germania? Äwwer dat kriegen wir hin! Isch sach dir Bescheid.«
So kam Estrella zur Klinik Professor Mayfelders. Die Pfortenschwester las ebenfalls den Zettel, zuckte die Schultern und fragte: »Zu wem wollen Sie denn?«
»Blankers«, sagte Estrella mit dünner Stimme. »Klaus Blankers … o Fernando …«
»Fernando? Zu wem wollen Sie denn?«
»Blankers o Fernando …«
Die Pfortenschwester rief den Stationsarzt an und winkte Estrella, in der Halle zu warten.
Es dauerte eine Stunde, bis man Estrella durch Zimmer und über Gänge geführt hatte, von Arzt zu Arzt, bis schließlich der 1. Oberarzt Dr. Willkens sie mitnahm zu Professor Mayfelder.
Verschüchtert, das Köfferchen an die Knie gedrückt, mit langen, strähnigen Haaren und großen, ängstlichen Augen, stand Estrella in dem großen, lichtdurchfluteten Chefzimmer und atmete wie eine Erstickte, die plötzlich frischen Sauerstoff bekommt, hörbar auf, als Professor Mayfelder sie in einem mühsamen, holprigen, mit italienischen Worten durchsetzten Spanisch ansprach.
»Sie wollen Herrn Blankers sprechen, mein Fräulein?«
Estrella nickte. »Fernando, Señor. Hier soll er Klaus Blankers heißen.«
»Sie kennen ihn?«
»Er ist mein Verlobter, Señor.«
Professor Mayfelder warf einen schnellen Blick auf seinen 1. Oberarzt. »Die Sache wird interessant, aber kompliziert, Willkens. Blankers nannte sich in Spanien Fernando, das wissen wir. Aber von diesem Mädchen war nie die Rede.« Er wandte sich Estrella zu, die noch immer ängstlich und mit flackernden Glutaugen mitten im Zimmer stand. Ihr schwarzes Haar glänzte in der kalten Wintersonne. »Wie sind Sie hierhergekommen?«
»Mit dem Zug, Señor.«
»Und warum?«
»Ich will bei Fernando sein.«
Professor Mayfelder nahm die Brille ab, putzte sie, hauchte gegen die Gläser und dachte scharf nach. Das ist eine verteufelte Situation, überlegte er. Wer weiß, was Blankers als Fernando in Spanien alles angestellt hat? Wird er sich an dieses Mädchen erinnern können, wenn er es sieht? Oder ist mit der gelungenen Operation dieser Zeitabschnitt in seinem Hirn ausgelöscht?
Plötzlich gewann diese Frage in Mayfelder das Interesse eines großen Experimentes. Wo kommt man schon in die Lage, wo hat man eine solche Möglichkeit, Erinnerungsprozesse zu studieren, wie jetzt im Falle Blankers? Ein Gehirn ist ein Erinnerungsspeicher wie ein Elektronenrechner. Versagt es, läßt es Erinnerungen fallen, wenn man bestimmte Nervenimpulse ausschaltet oder Fehlkoppelungen normalisiert?
»Wie heißen Sie, mein Fräulein?« fragte Mayfelder.
»Estrella Cortez, Señor.«
»Kommen Sie mit, Fräulein Estrella.«
»Sie wollen wirklich, Herr Professor?« Oberarzt Dr. Willkens legte alle Bedenken, die er hatte, in diese Frage. Mayfelder drehte sich nach ihm um.
»Ich weiß, was Sie denken, Willkens. Aber es hat keinen Sinn, Realitäten aus dem Wege zu gehen. Dieses Mädchen existiert nun einmal, ich kann
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