Nacht der Wahrheit
der Göttin mit all deiner Kraft gedient, Kind“, setzte er fort, „doch es ist nun an der Zeit, dass du die Verantwortung abgibst. Lasse die Entbehrungen der irdischen Mühsal hinter dir und kehre zurück in den Schoß von Osiris.“
Talon sah, wie teilnahmslos das Mädchen die Rede aufnahm. Er befürchtete, dass sie bereits unter Drogen gesetzt worden war, bevor sie zu dieser Zeremonie gebracht wurde. Ein leichtes, inhaltsleeres Lächeln löste sich von den jungen Lippen.
„Es ist an der Zeit, die Aufgabe abzugeben“, hörte er die Worte. „Gib dich hin, damit Sekhmet von neuem leben kann!“
Talons Augen wurden zu dünnen Schlitzen. Er versuchte mit aller Macht, seinen Kopf zu klären. Erneut trat der dienstbare Priester vor, und dieses Mal hob Menasseb einen schlanken, dunklen Gegenstand empor. Die geschliffene Klinge aus schwarzem Obsidian leuchtete mit einem rötlichen Glanz im Licht des Feuers.
Der Mann aus dem Dschungel zerrte an seinen Ketten. „Nein!“, brüllte er dem Hohepriester entgegen. Doch die Männer ließen sich nicht aus ihrem Ritual herausreißen. Unbeirrt folgten sie ihren Vorgaben und ließen ihren Gesang anschwellen.
Eine kalte Klinge legte sich an Talons Hals. Sein Kopf wurde nach hinten gerissen.
„Wage es nicht, die Zeremonie zu stören“, zischte ihm Nefer mit unmissverständlicher Kälte zu.
„Du wirst diese Nacht nicht überleben“, stieß Talon heiser hervor. Der Hauptmann lächelte nur schwach. „Wir werden sehen“, antwortete er ihm knapp und zog den rotbraunen Haarschopf weiter nach hinten. Nur noch aus den Augenwinkeln konnte Talon das Geschehen beobachten. Menassebs Stimme war inzwischen in einem unverständlichen Murmeln untergegangen. Zwei Priester hatten sich hinter Nayla postiert und hoben sie nun langsam an. Sie war ungefesselt, dennoch wehrte sie sich keinen Moment. Mit verständnislosem Blick folgte die junge Frau den Bewegungen des Hohepriesters.
Blitzartig stieß die Klinge herab. Sie bohrte sich tief in die Brust des Mädchens, aus dessen Kehle sich nun ein qualvoller, lang gezogener Schrei löste. Talon biss die Zähne zusammen und sah hilflos zu, wie das Blut aus der tiefen Wunde schoss. Ein roter Faden löste sich aus einem Mundwinkel und lief die dunkle Haut hinab. Nayla taumelte zu Boden. Schattengleich tauchten hinter ihr zwei weitere Priester auf, die das andere Mädchen fest in ihrem Griff hielten. Nur undeutlich schälten sie sich aus dem Rauch, den die Ölbecken verbreiteten.
„Sekhmet!“, brüllte Menasseb auf, „nimm dieses unser Geschenk als deine neue Trägerin an. Schließe erneut den Bund und verschone uns vor deiner göttlichen Rache!“
Die Augen des zweiten Mädchens wechselten wild zwischen dem Obsidianmesser und dem sterbenden Körper vor seinen Füßen hin und her. Langsam, schwerfällig schüttelte es den Kopf, als weigere sich alles in ihm, das Geschehene zu akzeptieren.
Naylas Körper zuckte konvulsivisch am Boden. Der Gesang der Priester verlor sich in einem kreischenden Singsang. Menasseb beugte sich vor, um sich Nayla zu betrachten. Doch plötzlich zuckte er zurück. Die Klinge löste sich aus seinen Fingern und fiel klirrend auf den steinernen Boden. Er taumelte einen Schritt zurück.
„Nein …“, entfuhr es seinen Lippen kaum hörbar.
Die junge Frau stützte ihren tödlich verletzten Körper auf. Mit jedem verstreichenden Augenblick gewann ihr Körper an Masse. Lange, helle Haare legten sich wie ein Teppich auf die Haut. Aus der Fratze, die kaum noch etwas Menschliches an sich hatte, löste sich ein wütendes Knurren. Das Blut lief weiterhin über die gelblichen Reißzähne und verschmierte das dichte Fell.
Torkelnd, doch voller Kraft, erhob sich das Wesen, das gerade eben noch das zarte Mädchen gewesen war. Die bernsteinfarbenen Augen richteten sich hasserfüllt auf den Hohepriester, der die wenigen Stufen vom Podest nach unten gestolpert war. Doch die Löwin wandte sich nicht gegen ihn. Mit einer Schnelligkeit, der das Auge kaum zu folgen vermochte, bohrten sich ihre Pranken tief in den Körper des anderen jungen Mädchens und rissen ihn der Länge nach auf. Dunkel schoss das Blut aus der gewaltigen Wunde.
Menasseb brüllte auf. Er kam wieder auf die Beine und stolperte auf Nayla zu, die den toten Leib der jungen Frau aus den Armen der entsetzten Priester gerissen hatte und wie eine leblose Puppe zur Seite schleuderte. Seine Hand griff nach dem Messer, das nur wenig von ihm entfernt lag, doch noch in der
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