Nacht des Flamingos
ich vorhin so ärgerlich war. Es war nicht gegen Sie gerichtet. Das verstehen Sie doch, nicht wahr?«
»Natürlich.«
»Dieser Vernon ist wirklich ein ganz gerissener Bursche«, stellte Craig fest. »Er hat die Sache mit einer Brillanz gemeistert, die beinahe bewundernswürdig ist. Und er hat einen ausgezeichneten Eindruck auf die Geschworenen gemacht.«
»Das Mädchen hat ihm nach Kräften geholfen. Vergessen Sie das nicht«, erwiderte Miller.
»Ja. Sie hat gelogen, nicht wahr?«
»Natürlich. Man hatte sie wahrscheinlich unter Druck gesetzt.« Miller zögerte und fuhr fort: »Man kann ihr das nicht zum Vorwurf machen. Sie wurde ebenso ein Opfer der Umstände wie Joanna. Sie ist nämlich im Grunde ein sehr nettes Mädchen.«
Craig schwenkte den Kognak in seinem Glas und trank einen Schluck.
»Ich habe inzwischen einige Nachforschungen über unseren Mr. Vernon angestellt. Der Bursche hat es in sich.«
»Wirklich?« meinte Miller vorsichtig.
»Nur nicht so zurückhaltend, Sergeant. Sie wissen doch ganz genau, wovon hier die Rede ist.« Craig spülte den Rest seines Kognaks hinunter. Dann winkte er dem Kellner zu, um noch eine Runde zu bestellen. »Ich nehme an, Sie haben den Namen Pedlar Palmer schon einmal gehört?«
»Sie meinen Chefinspektor Palmer von Scotland Yard?«
»Genau. 1943 haben wir beide im Nahen Osten eine Weile zu gleicher Zeit Soldat gespielt. Ich habe ihn gestern abend angerufen, weil ich wissen wollte, ob Max Vernon in diesen Kreisen bekannt ist. Palmer ist mir für ein, zwei Gefälligkeiten, die ich ihm gelegentlich erwiesen habe, verpflichtet. Diese Angelegenheit ist selbstverständlich vertraulich.«
»Natürlich.«
»Ein Mann, den man nicht unterschätzen darf, dieser Vernon. Er hat also jetzt sein Revier von London nach hier verlegt. Halten Sie es für möglich, daß er hier auf ähnliche Raubzüge ausgehen wird wie in London?«
»Durchaus.«
»Das dachte ich mir.« Craig nickte. Ein feines Lächeln
schwebte um seine Lippen, und sein Blick verriet, daß er mit seinen Gedanken weit entfernt war. »Was sagt man gleich wieder von der Gerechtigkeit, Sergeant? Gerechtigkeit muß nicht nur durchgeführt werden, es muß dafür gesorgt werden, daß sie sichtbar wird. Was aber ereignet sich, wenn die Gesellschaft es nicht fertigbringt, ihre Pflicht zu tun? Was geschieht, wenn Recht und Gesetz versagen, weil sie nicht anwendbar sind? Sind Sie nicht auch der Meinung, daß dann der einzelne das Recht hat, die Sache selbst in die Hand zu nehmen?«
»Dazu habe ich nur eines zu sagen«, versetzte Miller. »Das wäre weder Recht noch Gerechtigkeit.«
»Hm, vielleicht haben Sie da recht.« Craig warf einen Blick auf seine Uhr. »Lieber Himmel, ist es schon so spät? Ich muß gehen. Kannst du dir ein Taxi nehmen, Harriet?«
Ehe sie antworten konnte, mischte Miller sich ein.
»Ich werde Miß Craig nach Hause bringen. Ich habe meinen Wagen hier.«
»Vielen Dank. – Schön, mein Kind, dann sehen wir uns später.« Er drückte Harriet kurz die Hand und ging.
»Noch etwas zu trinken, Miß Craig?«
»Nein, danke. Ich würde gern gleich nach Hause fahren, wenn es Ihnen paßt. Ich bin ziemlich müde. Die letzten Tage waren nicht ganz leicht.«
Der kleine Cooper war bei der Inspektion. Miller hatte sich für diesen Tag den Jaguar seines Bruders ausgeliehen. Harriet Craig zeigte sich gebührend beeindruckt.
»Ich wußte gar nicht, daß die Polizei inzwischen so fortschrittlich geworden ist.«
»Das ist sie auch nicht«, erwiderte er und öffnete ihr die Tür. »Der Wagen gehört meinem Bruder. Er hat soviel Geld, daß er nicht weiß, was er damit anfangen soll, und möchte mir das Leben so angenehm wie möglich machen.«
Er schloß die Tür und setzte sich hinter das Steuer. Während er den Wagen auf die Straße hinauslenkte, fragte er: »Sie sind Lehrerin, nicht wahr?«
Sie nickte zustimmend.
»Ja. Ich unterrichte an der Schule in der Dock Street. Heute habe ich mir freigenommen.«
»Eine ziemlich üble Gegend.«
»Man bekommt Erfahrung. In absehbarer Zeit soll die Schule sowieso abgerissen werden. Man will ungefähr einen Kilometer entfernt eine neue, moderne Schule errichten.«
Eine Zeitlang schwiegen sie beide. Dann sagte er: »Sie glauben doch nicht, daß Ihr Vater auf eigene Faust etwas unternehmen wird?«
Sie runzelte die Stirn.
»Was soll denn das heißen?«
»Unsere Unterhaltung in der Bar eben macht
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