Nacht des Flamingos
seine Brille ab und lehnte sich in seinem Sessel zurück.
»Mr. Vernon, ich respektiere selbstverständlich Ihre Gefühle, doch ich muß auf einer Antwort auf meine Frage bestehen. Sie stehen unter Eid, Sir.«
Vernon verlor ein wenig an Haltung.
»Ja, wir hatten intime Beziehungen.« Er straffte plötzlich die Schultern und funkelte den Coroner zornig an. »Und warum auch nicht? Sie war schließlich kein Kind mehr. Es ging keinen Menschen etwas an.«
Der Coroner schob seine Brille wieder auf die Nase und vertiefte sich erneut in die Papiere, die vor ihm lagen.
»Wußten Sie, daß die Verstorbene rauschgiftsüchtig war?«
»Natürlich nicht. Glauben Sie etwa, ich hätte das untätig mitangesehen?«
»Wir haben bereits gehört, daß sie an dem Abend ihres Todes bei einer privaten Gesellschaft auftauchte, die Sie in Ihrem Klub abhielten.«
»Das ist richtig.«
»Was geschah bei dieser Gelegenheit?«
»Darüber gibt es eigentlich nicht viel zu berichten. Sie war sehr niedergeschlagen und unglücklich. Sie sagte, sie hätte plötzlich kein Interesse mehr an ihrer Arbeit, und das ganze Leben erschiene ihr nicht mehr lebenswert. Jetzt, in der Rückschau, wird mir natürlich klar, daß das die Auswirkung der Drogen gewesen sein muß. Damals riet ich ihr, nach Hause zu gehen. Bei einer früheren Unterhaltung hatte sie mir erzählt, daß sie sich mit ihrem Vater nicht mehr verstände. Doch als sie an dem Abend zu mir kam, schien mir, als spielte das in jenem Augenblick keine Rolle. Deshalb redete ich ihr zu, nach Hause zurückzukehren.«
»Und wie reagierte sie darauf?«
»Sie wollte nichts davon wissen. Dann ging ich einen Moment weg, um ihr etwas zu trinken zu holen, und als ich zurückkam, war sie verschwunden.«
»Ich danke Ihnen, Mr. Vernon. Das ist alles.«
Während Vernon gemessenen Schrittes zu seinem Platz zurückkehrte, stand Henry Baxter wiederum auf.
»Vielleicht darf ich an diesem Punkt einige Ausführungen im Namen meines Mandanten machen?«
Der Coroner nickte.
»Im Zusammenhang mit dem tragischen Tod dieser jungen Frau«, begann der Anwalt, »wurden gewisse Behauptungen aufgestellt, die darauf abzuzielen scheinen, meinen Mandanten als mitverantwortlich hinzustellen. Ich würde meinen, daß seine rückhaltslose Aufrichtigkeit bei der Beantwortung der Fragen, die ihm gestellt wurden, sein ganzes Verhalten im Zeugenstand sowie die Aussage der Zeugin Monica Grey hinlänglich beweisen, daß alle derartigen Behauptungen jeglicher Grundlage entbehren. Mein Mandant ist Generaldirektor einer Gesellschaft, die eine Reihe bedeutender Unternehmen verwaltet. Ich darf in diesem Zusammenhang noch hinzufügen – obwohl er mich überreden wollte, davon abzusehen –, daß er als aktiver Offizier bei den Royal Guards gedient hat und mit dem Distinguished Service Order für hervorragende Tapferkeit und vorbildliche Führerschaft in der malaiischen Krise ausgezeichnet wurde.«
Vernon machte ein gebührend verlegenes Gesicht, als Baxter sich wieder niedersetzte.
»Ich danke Ihnen, Mr. Baxter«, sagte der Coroner. »Ich rufe Colonel Craig in den Zeugenstand. Bitte, Colonel Craig.«
Alle Augen richteten sich auf den hochgewachsenen, jugendlich wirkenden Mann, als dieser aufstand und vortrat. Die eine Hand leicht auf das Geländer gestützt, stand er da, die Verkörperung des Soldaten, trotz des dunklen Anzugs und der Krawatte.
»Sie sind Colonel Duncan Stuart Craig und wohnen in Rosedene, Grange Avenue, Saint Martin's Wood?«
»Ja.«
»Sahen Sie am Dienstag dieser Woche im städtischen Leichenschauhaus eine weibliche Tote?«
»Ja.«
»Wer war die Tote?«
»Meine Tochter – Joanna Maria Craig.«
»Ich werde Ihnen eine Bestattungserlaubnis ausstellen lassen.« Es war einen Moment still, während der Coroner sich eine Notiz machte. »Ich weiß, daß das alles für Sie sehr bedrückend sein muß, Colonel, deshalb werde ich mich so kurz wie möglich fassen. Bis vor vier Monaten ungefähr war Ihre Tochter ein ganz normales junges Mädchen, das sich von anderen Mädchen ihres Alters nicht unterschied, nicht wahr?«
»Ja, das stimmt. Die Veränderung, die dann plötzlich mit ihr vorging, war uns völlig unerklärlich. Es kam zu häufigen Temperamentsausbrüchen, und Joannas Stimmung schwankte ständig zwischen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt. Sie fiel von einem Extrem ins andere. Kurz, sie wurde ein anderer Mensch. Jetzt ist mir natürlich klar,
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