Nacht des Ketzers
sagen, dass es ihm gutgeht.“
Als sie das erste Mal das Meer sahen, überfielen Guiseppe die Erinnerungen an seine Zeit in Neapel – und immer wieder an Giordano. Nach etwa anderthalb Wochen erreichten sie die Stadt seiner Kindheit. Es war frühsommerlich mild. Der Golf lag träge vor ihnen im Schatten des Vesuvs. Guiseppe dachte an seine Zeit im Kloster. An seine ehemaligen Mitbrüder. An Giordanos geheime Vorlesungen und wie er ihn verteidigt hatte. Noch ein paar Stunden zu Pferd, und dann konnte man von weitem das Haus erkennen, in dem Giordanos Eltern lebten. Ein Hund schlug an, als sie den Weg hochritten. Eine alte Frau saß auf der Bank vor dem Haus und beobachtete die Näherkommenden. Sie verstand nicht so recht, was geschah, als die beiden Ankömmlinge von ihren Pferden stiegen und erst der Mann, dann die junge Frau vor ihr niederknieten und ihr die Hände küssten. Erst als Guiseppe erklärte, wer sie waren, und von Giordano zu erzählen begann, kullerten dicke Tränen über ihre Wangen.
***
Sie wussten nicht, wie lange sie vor dem Haus gesessen hatten. Als es dämmerte, bat sie die beiden hinein und schickte sich an, Essen vorzubereiten. Ihr Herz war froh darüber, dass es Giordano gutging, wiewohl die Aussicht, ihn je wiederzusehen, gering war. Immer wieder starrte sie Guiseppe für längere Zeit an, stellte Fragen über seine Vergangenheit. Das junge Mädchen gefiel ihr. Ihr kräftiges Haar, die roten Wangen, der helle, wache Blick. Guiseppe erzählte und erzählte, bis spät in die Nacht. Anna war schläfrig, wollte zu Bett, da begann die alte Frau eine Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte, die in der Vergangenheit spielte, als ihr Mann wieder einmal als Söldner in den Krieg gezogen war. Einer seiner Kameraden war zu ihr zurückgekehrt und hatte ihr erzählt, dass ihr Giovanni vermutlich von den Türken getötet worden war. Jedenfalls habe er ihn aus den Augen verloren. Es hatte eine lange Trockenperiode geherrscht, die Ernte war schlecht ausgefallen, und die Menschen hungerten. Sie war ganz auf sich alleine gestellt gewesen. Der Kamerad war eine Zeitlang bei ihr geblieben und hatte ihr in der Landwirtschaft geholfen, aber als der Reihe nach das Vieh gestorben und bald nicht mehr genug für zwei zu essen da gewesen war, hatte er ihr seinen restlichen Sold überlassen und war wieder in den Krieg gezogen. Bald darauf hatte sie gespürt, dass sie ein Kind erwartete – eine Katastrophe, denn wie sollte sie es ernähren? Die Nachbarinnen hatten bei der Geburt geholfen, und bald darauf hatte sie sich mit dem Neugeborenen auf den Weg nach Neapel gemacht. Guiseppe blieb fast das Herz stehen. Fraulissa erzählte weiter. Sie hatte gewusst, dass ihr Erstgeborener zu diesem Zeitpunkt bereits bei den Benediktinern in guten Händen war, und so hatte sie in ihrer Not nur noch einen Ausweg gesehen und das Bündel mit dem Kind ebenfalls vor deren Klostertür gelegt. Monate um Monate waren vergangen. Oft hatte sie an ihre beiden Söhne gedacht, und eines Tages hatte dann Giovanni wieder vor ihrer Tür gestanden, abgemagert, müde. Der Krieg hatte ihn ausgezehrt, und sie, Fraulissa, hatte nicht gewagt, ihm etwas von dem Kind zu erzählen.
Kapitel 70
„Ich bin hocherfreut, Signore Bruno, dass Ihr meiner Einladung Folge geleistet habt.“
Giovanni Mocenigo rieb sich die Hände. Er war von zierlicher, fast knabenhafter Gestalt.
„Seid mein Gast in meinem bescheidenen Haus.“
Giordano war von einem Boot im Hafen von Mestre abgeholt worden. Der Palazzo verfügte wie die meisten Patrizierhäuser über eine Zufahrt, die direkt in sein Inneres führte. Fackeln erleuchteten die Bootsanlegestelle und erinnerten ihn an die Lagune auf Capri, die er einmal mit seinem Vater besucht hatte. Abfälle trieben im Wasser. Das kleine Boot schwankte gewaltig, als Giordano es verließ. Diener nahmen seine Gepäckstücke entgegen. Signore Mocenigo bezahlte den Fährmann und führte seinen Gast danach über eine schmale Treppe in einen sonnendurchfluteten Salon. Ein Cembalo stand neben einer Sitzgruppe. Gemälde an der Wand erzählten von antiken Schlachten. Ciotto hatte nicht übertrieben. Signore Mocenigo schien über einigen Reichtum zu verfügen.
„Kommt, kommt!“
Der kleine Mann lief ständig um Giordano herum. Er erinnerte ihn an ein Nagetier. Fliehende Stirn, dünnes Haar, schmale Augen und ein kleiner, schmallippiger Mund. Sein Gehrock reichte fast bis zu den dünnen Waden. Er goss Süßwein in zwei
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