Nacht des Ketzers
neben ihm im Stroh. Der Bauer hatte wortlos zur Scheune gedeutet, als sie nach einer Unterkunft fragten. Wenig später war er mit einem Krug Milch, Brot und einer Decke zu ihnen gekommen. Ohne ein Wort zu sprechen, hatte er ihnen die Kostbarkeiten hingestellt und war sogleich wieder verschwunden. Anna hatte gierig getrunken und gegessen und war sofort eingeschlafen. Wölfe heulten ganz in ihrer Nähe. Mehrmals meinte Guiseppe, Hufgetrappel zu hören. Irgendwann war er dann doch eingenickt. Bei Tagesanbruch verließen sie ihre Unterkunft. Im Bauernhaus regte sich nichts. Die Pferde waren gut versorgt gewesen. Nachdem sie den schwierigsten Teil der Reise, die Alpen, hinter sich gelassen hatten, ließ auch die Anspannung nach, die sie fortwährend weitergetrieben hatte. Wie ein gehetztes Wild hatten sie während des Ritts immer wieder nach hinten geblickt. Je weiter sie nach Süden kamen, umso milder wurde das Klima. In einem Gasthof in der Nähe von Ravenna arbeitete Guiseppe für ein paar Tage als Stallbursche, Anna half in der Küche, und so konnten sie endlich ein paar Kleidungsstücke kaufen. Während der vergangenen Tage hatten sie kaum gesprochen, schon gar nicht über die Vorfälle in Genf. Erst jetzt, als sie endlich etwas Ruhe fanden, begann Anna langsam und stockend, über ihr Martyrium zu berichten. Guiseppe lauschte stumm, entsetzt über das, was er zu hören bekam.
Am dritten Abend wurde im Gasthof ein Fest gefeiert. Das Wirtspaar, gutmütige Leute von etwa vierzig Jahren, hatte alle Bediensteten, Nachbarn und Freunde dazu eingeladen. Ihr Ältester, er hieß ebenfalls Guiseppe, hatte sich als Söldner in der spanischen Armee verdingt und musste am nächsten Tag abreisen. Es ginge gegen die Protestanten, hieß es. Mehr wusste er aber nicht zu berichten. Trotz der Wehmut der Eltern, die um ihren Sohn bangten, ihn aber nicht hatten davon abhalten können, Soldat zu werden, wurde es ein fröhliches Fest. Musikanten spielten auf, und es wurde sogar getanzt. Auch Guiseppe versuchte sein Glück und stolperte zum Gelächter aller mehrmals. Der Wirt schenkte einen kräftigen Rotwein aus, und die Wirtin hatte Kapaune und Wildhasen gebraten. Das Fest dauerte bis lange nach Mitternacht, bis der letzte Gast reichlich betrunken nach Hause gegangen war. Guiseppe und Anna halfen den Wirtsleuten noch, das Geschirr zu versorgen und die Gaststube wieder in Ordnung zu bringen, dann gingen auch sie in ihre Kammer. Aus den Augenwinkeln beobachtete Guiseppe das Mädchen, mit dem er nun schon seit einigen Tagen das Lager teilte. Noch nie hatte er es bisher gewagt, sie anzusehen, wenn sie sich entkleidete. Ermutigt durch den Wein, war es diesmal anders, und auch Anna schien anders als sonst. Ob sie etwas merkte? Jedenfalls ließ sie sich sehr viel Zeit. Ihr blondes Haar war glänzender und voller geworden. Guiseppe erhaschte einen Blick auf ihre kleinen Brüste, ehe sie das Nachtgewand überstreifen konnte. Aber er sah auch die von den Schlägen des Richters wunden Stellen auf ihrer Haut. Sein Herz klopfte bis zum Hals, er zitterte leicht, als er zu ihr unter die Decke schlüpfte. Er spürte ihre Hand auf seinem Gesicht, einen zarten Kuss, erst verhalten, dann drängender.
„Nein, lass!“
Jäh brach Anna die Zärtlichkeiten ab und drehte sich zur Seite. Es ging nicht. Die Berührungen, so zärtlich sie auch waren, riefen nur Ekel und Abscheu in ihr hervor. Ständig sah sie den Richter vor sich. Guiseppe war enttäuscht und hilflos zugleich. Er wusste nichts mit dem schluchzenden Wesen neben sich anzufangen.
Am nächsten Morgen verabschiedeten sie sich von dem Wirtspaar. Guiseppe, der Soldat, war noch in der Nacht losgezogen.
„Wo geht für Euch die Reise hin?“ Man sah der Wirtin an, dass sie eben noch geweint hatte. Auch Annas Blick heftete sich auf Guiseppe, da sie bis jetzt noch nicht über ihr Reiseziel gesprochen hatten. Guiseppe richtete sich im Sattel auf und sah in die Runde.
„Wir reiten nach Nola.“
***
„Nola?“
Sie waren schon gut eine Stunde geritten, bis Anna ihn nach der Stadt fragte.
„Ich will Giordanos Eltern sehen.“
„Wer ist Giordano?“
Guiseppe erzählte ihr von seiner abenteuerlichen Reise mit dem Freund und dass er ihn kurz vor Paris verlassen hatte, um zu ihr zurückzukehren.
„Sicher lebt er nun als Professor in Paris“, schwärmte er, „und bestimmt hat er eine Frau gefunden. Giordano ist für mich wie ein Bruder, und deshalb möchte ich zu seinen Eltern, um ihnen zu
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