Nacht des Ketzers
endlich so etwas wie Glück empfand. Sie hatten viel über Giordano und seine Ideen gesprochen, oft nächtelang wie er den Sternenhimmel beobachtet und über die Unendlichkeit des Alls diskutiert. Anna wollte alles wissen, sog die Erzählungen Guiseppes in sich auf, stellte hier eine kluge Frage und machte dort eine interessante Bemerkung. Guiseppe war stolz, eine so kluge und gebildete Gefährtin zu haben, und schon bald musste er feststellen, dass ihre Wissbegierde seine eigene bei weitem übertraf. Eines Tages würde er sie Giordano vorstellen, und vielleicht konnte der sie sogar in Gedächtniskunst, Astronomie oder Astrologie unterrichten?
***
Anna wollte zum Sommerhaus ihrer Eltern, aus dem sie vor den Schergen der Inquisition hatten fliehen müssen. Wollte wissen, wie es ihren Verwandten ging, falls sie da noch lebten.
Die Reise war nicht allzu beschwerlich. Als sie mitten in der Nacht vor dem Haus der Familie standen, war die Tür fest verschlossen. Enttäuschung machte sich breit, doch dann hellten sich Annas Züge auf. Vincenzo, ein Freund ihrer Eltern, hatte sie gehört. Er hatte einen Schlüssel zum Haus, ließ sie ein und versorgte sie mit dem Notwendigsten.
Anna umarmte und küsste ihn, wollte alles über den Verbleib der Familie wissen und ersparte Vincenzo die düsteren Details ihres Aufenthaltes in Genf. Ein Hahn krähte, als sie zu Bett gingen.
Erst nach sehr, sehr langer Zeit war es Anna gelungen, den Richter aus ihren Träumen zu verbannen und Guiseppe darin Platz zu machen. Er war sehr behutsam gewesen und hatte ihr viel Zeit gelassen. Mit ihm hatte sie ihr Selbstvertrauen und auch die Stärke von früher, als sie für ihre todkranke Mutter hatte sorgen müssen, wiedergefunden. Seine Berührungen waren ihr nicht mehr unangenehm. Im Gegenteil. Sie suchte sie immer häufiger, ließ seine Zärtlichkeiten zu.
Guiseppe begann, Nachbarskinder in Lesen und Schreiben zu unterrichten, und Anna kümmerte sich um den Haushalt. Die Tage waren unbeschwert, zumindest versuchte Guiseppe, sie so leicht wie möglich erscheinen zu lassen. Ab und an ritten Anna und er zur Küste, und obwohl er nicht schwimmen konnte, fuhren sie mit den Fischern hinaus aufs Meer. Oft beobachteten beide auch jetzt noch stundenlang den Sternenhimmel, überlegten, was Giordano wohl jetzt gedacht hätte, versuchten, hinter seine Gedankengänge zu kommen, zu verstehen, was ihn getrieben hatte und was er zu erfassen versucht hatte. Guiseppe versuchte, sich zu erinnern, was der Mönch seinen Mitbrüdern manchmal fast wie ein Besessener entgegengedonnert hatte, ohne Rücksicht auf die Gefahr, von jemandem gehört oder gar denunziert zu werden. Denn dass das, was er zu sagen hatte, ketzerisch war, hatten ihnen nicht nur die Klosteroberen geradeheraus gesagt, das hatten sie alle instinktiv gespürt. Vielleicht war es für seine Mitbrüder ja gerade deshalb so interessant gewesen, seinen Vorträgen zu lauschen. Für ihn galt das ganz bestimmt.
Wie es Giordano wohl gehen mochte? Immer wieder stellten sie sich diese Frage.
Eines Mittags kam Vincenzo vorbei, um ihnen mitzuteilen, Annas Cousin habe Nachricht geschickt, dass er in wenigen Wochen nach Padua kommen wolle, und er, Vincenzo, möge doch so gut sein, das Haus für ihn vorzubereiten.
„Als ob ich nicht die ganze Zeit darauf geachtet hätte“, murmelte der Alte griesgrämig, aber doch für beide verständlich in seinen Bart.
Guiseppe merkte, wie sehr diese Nachricht Anna aufwühlte. Nie hatte sie von dem Cousin erzählt, doch jetzt sprudelte es nur so aus ihr heraus. Gemeinsam aufgewachsen seien sie, ein Gelehrter sei er, im fernen Padua. Vor ihrer Flucht hätte sie ihn zu geheimen wissenschaftlichen Experimenten begleiten dürfen. Guiseppe verstand nur die Hälfte, so sehr war er von der Wortflut überwältigt. Glockenturm, Pendel. Er verstand überhaupt nichts. Es war ihm aber auch einerlei. Hauptsache, Anna freute sich, und das tat sie auf unbändige Weise. Erst als der Wortschwall versiegte, nahm er sie in seine Arme und streichelte ihr blondes Haar.
***
„Anna, Anna!“ Aufgeregt rief Guiseppe eines Abends den Namen durch die Gasse, als er von einem Privatunterricht nach Hause kam. „In wenigen Tagen soll Giordano in Rom öffentlich verbrannt werden“, keuchte er atemlos.
Noch in derselben Nacht brachen sie auf.
Kapitel 72
16. Februar 1600
Kardinal Bellarmin betete die ganze Nacht, wie jedes Mal, wenn am nächsten Morgen ein Ketzer vor seinen
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