Nacht des Ketzers
gekommen war, schien es ihm, als habe es Giordano noch eiliger als zuvor. Sein Weg führte Richtung Cannaregio, dem Gebiet um eine verlassene Gießerei. Guiseppe hatte im Kloster davon gehört, dass die Juden Venedigs hier lebten, aber was um alles in der Welt wollte Giordano hier? Er würde doch nicht zu den Jesusmördern gehen? Doch sein Mitbruder hielt nicht inne, durchquerte, ohne zu zögern, die niedrigen Tore und stieg über die dicke Eisenkette, die die Grenze markierte.
Das geschäftige Treiben fand hier auf beengtem Raum seine Fortsetzung. Alles war wie außerhalb des Ghettos, nur dass es immer mehr hebräische Schriftzeichen zu sehen gab. Einige davon waren Guiseppe von seinen Studien her geläufig.
Die Kleidung und Haartracht der Menschen, vor allem der Männer, hatten sich verändert. Rote Farbe beherrschte das Stadtbild, eigenartige Hüte, von denen er schon gehört hatte. Der Mönch konnte italienische, spanische, deutsche und hebräische Worte ausmachen, die die Luft rings um ihn erfüllten. Viele Juden waren zur Zeit der Pest im nördlichen Europa über zweihundert Jahre zuvor nach Venedig geflohen, da man ihnen hier Schutz vor Verfolgung gewährte. Sie waren es, denen man vorwarf, den Schwarzen Tod heraufbeschworen zu haben. Der Schutz dauerte bis zum heutigen Tag an und wurde selbst vor der heiligen Inquisition gewährt. Zwar kam es immer wieder zu Pogromen, doch wurden diese vom Dogen und seinem großen Rat aufs strengste verfolgt und geahndet.
Guiseppe war mulmig zumute unter all diesen fremden Menschen. Ständig fühlte er sich argwöhnisch beobachtet. Wo war Giordano? Gerade hatte er ihn noch in einem Hauseingang verschwinden sehen. Der Mönch folgte ihm. Hinter dem Hauseingang erstreckte sich ein etwa zwanzig Meter langer Gang, von dem links und rechts Türen abgingen. Spärliches Tageslicht hatte Mühe, in die kleine, enge Gasse vorzudringen. Das Wimmern eines Kindes drang aus einem der vielen Fenster an sein Ohr. Fast alle Türen waren geöffnet, und Guiseppe konnte Handwerker bei ihrer Arbeit sehen. Flickschuster neben Schneidern, Korbbinder neben – da sah er Giordano, wie er sein Bündel einem alten Mann in den Schoß legte. Der Grauhaarige öffnete es und nahm das Manuskript heraus. Guiseppe beobachtete, wie die beiden wild und angestrengt gestikulierten, bald hellten sich ihre Züge auf, sie waren handelseins geworden. Eiligen Schrittes verließ Giordano die kleine Buchdruckerei, vorbei an Guiseppe, der sich in einer Mauernische versteckt hielt.
Die folgenden drei Wochen vergingen langsam. Guiseppe hatte eine Stelle als Hauslehrer bei einer Patrizierfamilie gefunden und hatte sich dort jeden Morgen um acht einzufinden. Die beiden Knaben, sieben und acht Jahre alt, versuchten mit allen Tricks, den Unterricht zu stören, aber sobald sie die drohenden Schritte ihres Vaters hörten, saßen sie artig und taten so, als hörten sie seinen Ausführungen über Mathematik aufmerksam zu. Doch der neue Hauslehrer war geduldig und einfühlsam, erinnerte sich selbst an seine Kindheit, in der er oft Schläge hatte erdulden müssen, wenn er nach Meinung der Patres nicht ordentlich genug am Schreibpult gesessen hatte oder seine ersten Schreibversuche ihren Ansprüchen nicht gerecht geworden waren. Der Palazzo der Familie war weitläufig und hatte vier Stockwerke. Von einem Kanal aus konnte man mit einem Boot direkt in das Innere des Hauses gelangen. Die Wände waren mit Seidentapeten und Gobelins mit sakralen Motiven geschmückt. Ein kleiner Austritt im Studierzimmer schwebte direkt über dem Wasser. Guiseppe liebte es, dort die Ankunft der Kinder zu erwarten. Tief atmete er den Duft der Stadt ein. Gegen elf Uhr vormittags verließ er den Stadtpalazzo und eilte über kleine Brücken und durch verwinkelte Gassen in Richtung Bootsanlegestelle, um wieder nach Mestre zu gelangen.
Das Leben in der Lagunenstadt begann langsam, aber sicher vor dem auf seinem Höhepunkt angelangten Sommer zu kapitulieren. Während der Mittagszeit glich Venedig einer Geisterstadt. Der Gestank von Abfällen und Fäkalien wehte durch die engen Gassen. Nur nahe an den Kanälen sorgte ab und zu eine frische Brise für Abkühlung und brachte Erholung für die Nase. Durch Schleusen hatte man sich die Gezeiten zunutze gemacht und so versucht, der Verschmutzung Herr zu werden. Doch der Mensch war mächtiger als die Natur, und so konnte das ausgeklügeltste Bewässerungssystem Schmutz und Unrat nicht mehr beseitigen.
Manchmal blieb
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