Nacht des Ketzers
war de Montaigne nicht zu Hause gewesen? Hatten sie nicht sogar vereinbart, sich am Abend zu treffen? Er konnte sich nicht mehr erinnern. Abermals öffnete er das Buch, und wieder zog es ihn zum Kapitel über die Sinnlichkeit und die Liebe hin. De Montaigne schrieb, man solle den verehrungswürdigen und geheiligten Ehebund nicht durch die maßlosen Ausschweifungen der Sinnesbrunst entehren. Ja, die Ärzte seien der Meinung, dass durch allzu heftige und hitzige Wollust der Samen verdorben und die Empfängnis somit verhindert würde. Meinte sein Nachbar das wirklich so, wie er es da schrieb, oder las er da einen ironischen Unterton? War Monsieur de Montaigne eigentlich verheiratet, oder verspottete er in seiner Schrift nur jene Unglücklichen, die auf Gedeih und Verderb dem Entgegenkommen des eigenen Weibes ausgeliefert waren und sich so lieber gleich vom Gedanken eines zügellosen Ehelebens verabschieden sollten? Er las weiter. Was stand da über die Gemahlin des römischen Kaisers Claudius? Sie solle in nur einer Nacht fünfundzwanzig Männer empfangen haben. Über die Königin von Aragonien las er, sie habe die gesetzliche Begrenzung des Geschlechtsaktes auf sechsmal täglich festgelegt, um so die der Ehe gebührende Mäßigung und Zurückhaltung gegenüber dem Ehegatten zu gewährleisten. Die Königin habe dabei den eigentlichen Bedarf ihres Geschlechts aufgeopfert und ihn auf ein Maß reduziert, welches leicht einzuhalten sei. Giordano war entsetzt und belustigt zugleich über die Offenheit, mit der sein Nachbar sich in seinen Schriften äußerte. Fürwahr, er hatte im Kloster hautnah jene Doppelmoral miterlebt, mit der die Mönche die ausschweifendsten Dinge trieben, um sodann dem einfachen Volk die ewige Keuschheit in die Gehirne zu predigen und ihm die Furcht vor dem Fegefeuer in die Seelen zu brennen, sollte es auch nur unkeusch denken. Doch das, was er hier las, schien ihm schon sehr weit zu gehen. Umso begieriger wurde er mit jedem Satz, den er las, mit de Montaigne darüber zu diskutieren. Einige Seiten weiter beschrieb der Autor seine eigenen Gemütszustände, was Giordano nie im Leben gewagt hätte. Sein Herz klopfte heftiger nach den ersten Zeilen. Darin plädierte de Montaigne selbst fürs Maßhalten, dafür, den naturgegebenen Verstand und das Urteilsvermögen zum Wohle der Frauen und zum eigenen einzusetzen. Aber keine Raserei. Schrieb Montaigne von seinen Geliebten? Keine Extreme. Immer den Mittelweg wählen. Ein weiser Mann, schien es Giordano. Wenn es den Frauen wohl erging, so hatte er selbst auch seine Freude daran. Solche Gedanken hatte er sich nie gemacht. Um wie vieles derber als die des klugen Mannes waren seine Vorstellungen von den Frauen? Besonders gefiel ihm der Satz: „Wer Genuss nur am Genuss findet, wer nur alles oder nichts gewinnen will, wer an der Jagd nur die Beute liebt, der hat in unserer Schule nichts zu suchen.“
Das klägliche Schreien der Katzen vor seinem Fenster schien erhört worden zu sein. Ein Uhu ließ sich vernehmen, ansonsten kehrte allmählich Stille in der großen Stadt ein. Wieder sah er aus dem Fenster, Glocken läuteten in der Ferne. Es musste Mitternacht sein. Die Lichter im Louvre brannten immer noch. Um wie viel klüger und erfahrener schien ihm der Autor der eben gelesenen Zeilen, und wie wenig wusste er selbst. Was war das bisschen Gedächtniskunst? Ha, wenn die Menschen wüssten, wie einfach man sich das alles aneignen konnte! Sein Wissen über Astronomie und Astrologie? Alles angelesen, alles Gedanken anderer Menschen, und er maßte sich an, darüber zu referieren. Freilich, die Studenten liebten seine mit viel Witz und allerlei Geschichten angereicherten Vorträge. Doch im Grunde bediente er sich nur des Intellekts anderer. Was von all dem, was er vortrug, war seinen eigenen Anstrengungen entsprungen? Selbst dort, wo er selbst zur Feder gegriffen hatte, hatten anderer Leute Ideen ihn geleitet. Giordano kam sich mit einem Mal klein und erbärmlich vor. Um wie vieles größer war doch Monsieur de Montaigne! Ein Genie in all seiner Bescheidenheit. Ein Poet, ein Philosoph, und er, Giordano? Ein Stümper, ein Dilettant. Nichts weiter als ein billiger Kopist, der durch Plagiate zu zweifelhaftem Ruhm und Ehren gekommen war. Die Selbstzweifel bohrten sich immer weiter in sein Herz. Am Morgen würde ihm der Rektor eine Professur anbieten. Aber konnte, durfte er sie überhaupt annehmen? Er würde sich auf jeden Fall Bedenkzeit erbitten und ganz bestimmt seinen
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