Nacht des Ketzers
auf, als die Stacheln sich in das weiche Fleisch gruben. Danach humpelte er, gestützt von seinem Kammerdiener, in die Schlosskapelle, wohin er sich mehrere Tage ohne feste Nahrung, nur mit einem Krug Wasser, zurückzog. François musste vor der Kapellentür Wache halten und konnte sich erst ausruhen, wenn auch der Monarch vor Erschöpfung auf dem kalten Marmorboden der Kapelle eingeschlafen war. Heinrich verließ die Kapelle nur, um rasch im Freien seine Notdurft zu verrichten, war aber streng darauf bedacht, dass sich außer François niemand in seiner Nähe befand. Zwei, drei Tage dauerte die Buße meist, danach widmete sich der König mit Eifer und Hingabe Studien aller Art. François musste täglich neue Bücher aus der umfangreichen Schlossbibliothek herbeibringen, und er ließ Professoren aus der Sorbonne herbeizitieren, die ihm bei seinen wissenschaftlichen Untersuchungen helfen sollten. Die Teilnehmer an den orgiastischen Ausschweifungen hielten sich vom Königshof fern. Sie wussten, dass die Phasen der Einkehr und der Buße irgendwann ein Ende hatten und dass der König sie alle wieder zu sich rufen lassen würde, um sie erneut den Göttern der Wollust zu opfern. Sie wussten zudem, dass der König ihnen gegenüber loyal war, solange sie sich ebenfalls an das unausgesprochene Schweigegelübde hielten. Zwar machten in der Bevölkerung allerlei Gerüchte über Ausschweifungen, bei denen junge Knaben und Tiere im Spiel waren, die Runde, doch diese wurden nur hinter vorgehaltener Hand weitergegeben.
Heinrich spürte die Wunden. Die betäubende Wirkung des Alkohols ließ allmählich nach. Die Schmerzen halfen ihm über die Scham hinweg, ließen ihn sein gestriges Tun vergessen. Aber er wusste, dass irgendwann der Drang nach Exzessen wieder in ihm aufsteigen würde, auch wenn er es sich in diesem Augenblick nicht eingestehen wollte. Bußfertig legte er sich mit seitwärts ausgestreckten Armen auf den Boden der Kapelle. Er betete, wiederholte im Geist immer wieder dieselben lateinischen Verse. Endlich war es ihm gelungen, das abschätzig dreinblickende Gesicht seiner Mutter aus seinen Gedanken zu vertreiben. Er wusste, dass sie ihn für seine Taten verachtete. Er hatte aber auch Mittel und Wege gefunden, ihre Gunst wiederzuerlangen. Etwa, als er den Kardinälen versichert hatte, seine Soldaten würden nicht eingreifen, wenn sie ihre Glaubensanhänger gegen die Hugenotten losschickten. Einige tausend waren in nur einer Nacht in Paris abgeschlachtet worden. Seine Mutter hatte die Berichte darüber wohlwollend zur Kenntnis genommen, und Heinrich hatte danach ein Wochenende mit ihr auf einem ihrer Jagdschlösser verbringen dürfen. Sie hatten lange Spaziergänge unternommen. Seine Mutter hatte sich bei ihm untergehakt und ihn mit Kosenamen aus seiner frühen Kindheit bedacht. Den Köchen hatte sie aufgetragen, all seine Lieblingsspeisen zu kochen, und wenn er abends ein Bad nahm, hatte sie die Kammerdiener weggeschickt und ihm selbst den Rücken und die Haare gewaschen, wie sie es getan hatte, als er noch ein kleiner Junge gewesen war. Kein Wort hatten sie über die schrecklichen Ereignisse in jener Nacht in Paris verloren. Er wusste, dass seine Mutter die Protestanten hasste und sie am liebsten mit Stumpf und Stiel ausrotten wollte. Er selbst hatte anfangs sogar Sympathien für die neue Glaubensrichtung empfunden, aber sobald er gemerkt hatte, dass er sich damit in krassem Gegensatz zu seiner geliebten Frau Mama befand, hatte er sich ihren Ansichten bedingungslos angeschlossen.
„Die Gnade hebt die Natur nicht auf, sondern vollendet sie.“ Heinrich wusste nicht, wie lange er auf dem Steinboden gelegen hatte. Durch das Aufstehen hatte die rauhe Kutte wieder einige Wunden aufgerieben. Er saß gekrümmt auf einer Kirchenbank, eine Kerze neben und ein Buch von Thomas von Aquin vor sich. „Die Gnade hebt die Natur nicht auf, sondern vollendet sie.“ Lange brütete er über diesen Satz. Er verehrte Thomas und hatte alle Schriften von ihm, derer er hatte habhaft werden können, in den Louvre bringen lassen.
„Alles, was existiert, muss eine Ursache dafür haben, dass es existiert, und diese Ursache wiederum muss von einer höheren Ursache stammen. Folglich muss es eine erste Ursache geben, am Ende dieser Kette, und diese Ursache heißt Gott.“ Heinrich las die Ausführungen immer und immer wieder. Hier war der Beweis, dass Gott existierte, und Thomas hatte ihn erbracht.
„Das höchste Wissen von Gott, das wir
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