Nacht des Orakels
hatte ich erst eine sehr vage Vorstellung von
Nacht des Orakels,
gerade einmal die ersten vorläufigen Umrisse. Die Handlung musste noch komplett ausgearbeitet werden, fest stand aber schon, dass es ein kurzer philosophischer Roman über Zukunftsvoraussagen sein sollte, eine Fabel über die Zeit. Der Protagonist, Lemuel Flagg, ist ein britischer Leutnant, der bei einer Granatenexplosion in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs das Augenlicht verliert. Aus seinen Wunden blutend, verwirrt und vor Schmerzen schreiend, entfernt er sich vom Kampfgeschehen und verliert den Kontakt zu seinem Regiment. Stolpernd und ohne zu wissen, wo er ist, schleppt er sich voran, gerät in den Ardenner Waldund bricht zusammen. Stunden später wird der Bewusstlose von zwei französischen Kindern gefunden, einem elfjährigen Jungen und einem vierzehnjährigen Mädchen, François und Geneviève. Die beiden sind Kriegswaisen und leben allein in einer verlassenen Hütte mitten im Wald – reine Märchengestalten in einer reinen Märchenumgebung. Sie tragen Flagg nach Hause und pflegen ihn gesund, und als der Krieg wenige Monate später endet, nimmt er die Kinder mit sich nach England zurück. Erzählt wird die Geschichte von Geneviève, die vom Jahr 1927 aus auf die seltsame Laufbahn ihres Adoptivvaters bis hin zu seinem Selbstmord zurückblickt. Seine Erblindung hat Flagg prophetische Fähigkeiten verliehen. Von jähen, tranceartigen Zuständen gepackt, fällt er zu Boden und schlägt um sich wie ein Epileptiker. Die Anfälle dauern acht bis zehn Minuten, und so lange sie anhalten, wird sein Geist von Bildern aus der Zukunft überschwemmt. Die Attacken kommen ohne Vorwarnung, und er kann sie weder abwehren noch steuern. Sein Talent ist Fluch und Segen zugleich. Es verhilft ihm zu Wohlstand und Einfluss, andererseits aber bereiten die Anfälle ihm heftige physische Schmerzen – ganz zu schweigen von der Seelenqual, denn viele seiner Visionen geben ihm Auskunft über Dinge, die er lieber nicht wissen würde. Zum Beispiel erfährt er den Todestag seiner Mutter, oder er sieht den Schauplatz eines Zugunglücks in Indien, bei dem zweihundert Menschen umkommen werden. Er gibt sich alle Mühe, mit seinen Kindern ein unauffälliges Leben zu führen, aber die erstaunliche Genauigkeit seiner Prophezeiungen (er sagt das Wetter ebenso voraus wie die Ergebnisse von Parlamentswahlen oder internationalen Cricket-Meisterschaften) macht ihn zu einer der berühmtestenGestalten im Großbritannien der Nachkriegszeit. Auf dem Gipfel seines Ruhms jedoch erlebt er eine tragische Liebesgeschichte, und am Ende wird er von seinem Talent vernichtet. Er verliebt sich in eine Frau namens Bettina Knott, die seine Liebe zwei Jahre lang erwidert und sogar seinen Heiratsantrag annimmt. Aber am Abend vor der Hochzeit gerät Flagg wieder einmal in einen seiner Zustände und erfährt, dass Bettina ihn noch vor Jahresende betrügen wird. Da seine Prophezeiungen bisher immer eingetroffen sind, ist er überzeugt, dass seine Ehe zum Scheitern verurteilt ist. Das Tragische daran ist, dass Bettina unschuldig ist, vollkommen frei von jeder Schuld, denn sie hat den Mann, mit dem sie ihren Gatten betrügen wird, noch gar nicht kennen gelernt. Unfähig, sich dem Schmerz zu stellen, den das Schicksal für ihn bereithält, stößt Flagg sich ein Messer ins Herz und stirbt.
Das Flugzeug landet. Bowen schiebt das halb gelesene Manuskript in die Aktentasche zurück, geht aus dem Terminal und steigt in ein Taxi. Kansas City ist ihm vollkommen unbekannt. Er ist nie dort gewesen, kennt niemanden im Umkreis von hundert Meilen und würde in arge Bedrängnis geraten, wenn er die Stadt auf einer unbeschrifteten Landkarte zeigen sollte. Er bittet den Fahrer, ihn zum besten Hotel am Ort zu fahren, worauf dieser, ein korpulenter Schwarzer mit dem unwahrscheinlichen Namen Ed Victory, in schallendes Gelächter ausbricht. Hoffentlich sind Sie nicht abergläubisch, sagt er.
Abergläubisch?, fragt Nick zurück. Was hat das damit zu tun?
Sie wollen zum besten Hotel. Das wäre das Hyatt Regency. Ich weiß nicht, ob Sie Zeitung lesen, aber vor ungefähreinem Jahr hat es im Hyatt eine große Katastrophe gegeben. Da haben sich die an der Decke aufgehängten Laufgänge gelöst und sind ins Foyer gestürzt. Hat über hundert Tote gegeben.»
Ja, ich erinnere mich. Da war mal ein Foto auf der Titelseite der
Times.
Das Hotel ist jetzt wieder in Betrieb, aber zimperliche Zeitgenossen gehen da nicht gern
Weitere Kostenlose Bücher