Nacht des Orakels
rein. Wenn Sie nicht zimperlich sind, und wenn Sie nicht abergläubisch sind, kann ich Ihnen das Haus nur empfehlen.
In Ordnung, sagt Nick. Das Hyatt. Ich bin heute schon einmal vom Blitz getroffen worden. Wenn er mich nochmal treffen will, weiß er, wo er mich findet. 7
7
Kansas City war als Bowens Ziel willkürlich gewählt – die erste Stadt, die mir eingefallen war. Wahrscheinlich weil sie so weit von New York entfernt ist, im Zentrum des Kernlandes: Oz in seiner ganzen wundersamen Fremdheit. Als ich Nick dann auf den Weg nach Kansas City gebracht hatte, erinnerte ich mich plötzlich an die Katastrophe im Hyatt Regency, ein reales Ereignis, das vierzehn Monate zuvor (im Juli 1981) stattgefunden hatte. Fast zweitausend Menschen waren damals im Foyer versammelt – einem riesigen, nach oben offenen Atrium von rund sechzehnhundert Quadratmetern. Sie blickten alle nach oben und verfolgten einen Tanzwettbewerb auf einer der oberen Galerien (die wechselweise auch als «schwebende Laufgänge» oder «Skyways» bezeichnet wurden), als die breiten Trägerbalken der Konstruktion sich aus ihren Verankerungen rissen und vier Stockwerke tief ins Foyer hinabstürzten. Einundzwanzig Jahre danach gilt das Ereignis noch immer als eine der schlimmsten Hotelkatastrophen in der Geschichte Amerikas.
Ed lacht über Nicks Antwort, und die beiden setzen ihre Unterhaltung auf der Fahrt in die Stadt fort. Es stellt sich heraus, dass Ed mit dem Taxifahren Schluss machen will. Er ist seit vierunddreißig Jahren dabei, und an diesem Abend fährt er zum letzten Mal. Es ist seine letzte Schicht, sein letzter Flughafeneinsatz, und Bowen ist sein letzter Fahrgast – der letzte Passagier, der jemals mit seinem Taxi fahren wird. Nick fragt, womit er sich in Zukunft beschäftigen möchte, und Edward M. Victory (so heißt er mit vollem Namen) greift in seine Hemdtasche, zieht eine Visitenkarte hervor und gibt sie Nick. BÜRO FÜR GESCHICHTSPFLEGE steht auf der Karte – darunter Eds Name, Adresse und Telefonnummer. Nick will schon fragen, was das zu bedeuten habe, aber ehe er die Frage formulieren kann, fährt der Wagen vor dem Hotel vor, und Ed hält ihm die Hand hin, um das letzte Fahrgeld zu empfangen, das er jemals erhalten wird. Bowen gibt ihm noch zwanzig Dollar Trinkgeld drauf, wünscht dem ab sofort im Ruhestand lebenden Taxifahrer alles Gute und geht durch die Drehtür ins Foyer des unseligen Hotels.
Da er nur wenig Bargeld hat und mit Kreditkarte zahlen muss, trägt Nick sich unter seinem richtigen Namen ein. Das wieder aufgebaute Foyer sieht aus, als sei es erst wenige Tage alt, und Nick kommt spontan der Gedanke, dass er und das Hotel sich so ziemlich in der gleichen Situation befinden: beide versuchen sie ihre Vergangenheit zu vergessen, beide versuchen sie ein neues Leben anzufangen. Der glitzernde Palast mit seinen gläsernen Aufzügen und riesengroßen Kronleuchtern und blank polierten Metallwänden – und er mit nichts als seinen Kleidern am Leib, zwei Kreditkarten im Portemonnaie und einemhalb gelesenen Roman in seiner Aktentasche. Er nimmt eine kostspielige Suite, fährt mit dem Aufzug in die zehnte Etage und kommt erst nach sechsunddreißig Stunden wieder runter. Nackt unter seinem Hotelbademantel, verzehrt er Mahlzeiten, die er sich vom Zimmerservice kommen lässt, steht am Fenster, betrachtet sich im Badezimmerspiegel und liest Sylvia Maxwells Buch. Er beendet es am ersten Abend vor dem Schlafengehen, und am nächsten Tag liest er es noch einmal, und noch einmal, und noch ein viertes Mal, ackert die zweihundertundneunzehn Seiten durch, als hinge sein Leben davon ab. Die Geschichte von Lemuel Flagg berührt ihn tief, aber Bowen liest
Nacht des Orakels
nicht, weil er sich anrühren lassen oder unterhalten werden will, und er vergräbt sich auch nicht in dem Roman, um die Entscheidung, was er als Nächstes unternehmen soll, aufzuschieben. Er weiß, was er als Nächstes zu tun hat, und das Buch ist das Einzige, was ihm dabei helfen kann. Er muss sich dazu erziehen, nicht mehr an seine Vergangenheit zu denken. Das ist der Schlüssel zu dem ganzen verrückten Abenteuer, das in dem Augenblick anfing, als der Wasserspeier vor ihm auf den Bürgersteig krachte. Wenn er sein altes Leben verloren hat, dann muss er handeln, als sei er gerade erst geboren worden, muss sich einreden, dass er von der Vergangenheit so wenig belastet ist wie ein Neugeborener. Natürlich hat er Erinnerungen, aber die sind nicht mehr relevant, gehören
Weitere Kostenlose Bücher