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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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nicht mehr zu dem Leben, das jetzt für ihn begonnen hat, und wann immer er sich dabei ertappt, wie er an sein altes Leben in New York zurückdenkt – das ausgelöscht ist, das nur noch ein Trugbild ist   –, strengt er sich mit aller Kraft an, seine Gedanken von der Vergangenheit abzuwenden und sich auf dieGegenwart zu konzentrieren. Und deshalb liest er das Buch. Deshalb liest er das Buch immer wieder. Er muss sich von den falschen Erinnerungen an ein Leben fortlocken, das ihm nicht mehr gehört, und da die Lektüre des Manuskripts vollkommene Hingabe und beharrliche Aufmerksamkeit von Körper und Geist verlangt, kann er, wenn er sich in den Seiten des Romans verliert, vergessen, wer er war.
    Am dritten Tag schließlich wagt Nick sich hinaus. Er geht die Straße hinunter, betritt ein Herrenbekleidungsgeschäft und sucht eine Stunde lang zwischen den Ständern, Regalen und Wühltischen herum. Stück für Stück stellt er sich eine neue Garderobe zusammen, belädt sich mit Hosen und Hemden, Unterwäsche und Socken. Zum Bezahlen reicht er dem Verkäufer seine American-Express-Karte, aber die Maschine nimmt die Karte nicht an. Das Konto ist gesperrt, teilt der Verkäufer ihm mit. Die unerwartete Entwicklung bestürzt Nick, äußerlich aber geht er leichthin darüber hinweg. Macht nichts, sagt er. Dann zahle ich mit meiner Visa-Karte. Doch als der Verkäufer die Karte durch das Lesegerät zieht, erweist auch die sich als ungültig. Das ist ein peinlicher Augenblick für ihn. Er will sich mit einem Scherz herauswinden, aber es fällt ihm nichts Komisches ein. Er entschuldigt sich bei dem Verkäufer dafür, dass er ihm Umstände gemacht hat, und verlässt den Laden.
    Die Misslichkeit ist leicht zu erklären. Nick hat die Lösung bereits gefunden, bevor er wieder im Hotel ist, und als er begreift, warum Eva die Karten hat sperren lassen, gesteht er sich widerwillig ein, dass er an ihrer Stelle nicht anders gehandelt hätte. Ein Ehemann geht los, um einen Brief einzuwerfen, und kommt nicht zurück. Wassoll die Frau denken? Natürlich ist es möglich, dass er sie verlassen hat, aber der Gedanke käme erst später. Die erste Reaktion wäre Beunruhigung, die Frau würde einen Katalog potenzieller Unfälle und Gefahren durchgehen. Von einem Lastwagen überfahren, von hinten erstochen, mit Waffengewalt ausgeraubt und niedergeschlagen. Und wenn ihr Mann an einen Räuber geraten war, hatte der ihm das Portemonnaie mit den Kreditkarten weggenommen. Ohne Beweis für die Richtigkeit der einen oder anderen Hypothese (keine Nachricht von einem Verbrechen, kein Leichenfund auf der Straße) war die Sperrung der Kreditkarten das Mindeste, was man an Vorsichtsmaßregeln treffen konnte.
    Nick besitzt lediglich achtundsechzig Dollar in bar. Er hat keine Schecks bei sich, und als er es auf dem Rückweg zum Hyatt Regency an einem Geldautomaten versucht, stellt er fest, dass auch seine Citibank-Karte nicht mehr gilt. Mit einem Schlag ist er in eine ziemlich verzweifelte Lage geraten. Alle Wege zum Geld sind ihm versperrt, und wenn das Hotel herausfindet, dass die American-Express-Karte, die er am Montag beim Einchecken benutzt hat, nicht mehr gültig ist, wird seine Situation sich aufs Unangenehmste verschärfen; womöglich wird er sich sogar gegen den Vorwurf des Betrugs zur Wehr setzen müssen. Er überlegt, ob er Eva anrufen und nach Hause fahren soll, kann sich aber nicht dazu überwinden. Er ist diesen weiten Weg nicht gegangen, bloß um beim ersten Problem umzukehren und nach Hause zu laufen, und fest steht, dass er nicht nach Hause will, dass er nicht zurückgehen will. Stattdessen nimmt er den Aufzug zur zehnten Etage des Hotels, betritt seine Suite und wählt Rosa Leightmans Nummer in New York. Er tut dasvollkommen spontan, ohne die leiseste Ahnung, was er ihr sagen soll. Zum Glück ist Rosa nicht da, und Nick spricht ihr etwas auf den Anrufbeantworter – einen chaotischen Monolog, der wenig oder gar keinen Sinn ergibt, nicht einmal für ihn selbst.
    Ich bin in Kansas City, sagt er. Ich weiß nicht, warum ich hier bin, aber ich bin jetzt hier, vielleicht für lange Zeit, und ich muss unbedingt mit Ihnen reden. Das Beste wäre, wir könnten persönlich miteinander sprechen, aber wahrscheinlich ist es zu viel verlangt, Sie zu bitten, so kurzfristig eine Maschine hierher zu nehmen. Sollten Sie nicht kommen können, rufen Sie mich bitte an. Ich bin im Hyatt Regency, Zimmer Zehn-sechsundvierzig. Ich habe das Buch Ihrer Großmutter jetzt

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