Nacht des Orakels
mehrmals gelesen und halte es für das Beste, was sie je geschrieben hat. Danke, dass Sie es mir gegeben haben. Und danke, dass Sie mich am Montag im Büro besucht haben. Bitte, ärgern Sie sich nicht, wenn ich das sage, aber ich habe die ganze Zeit an Sie denken müssen. Sie haben mich getroffen wie ein Hammerschlag, und als Sie aufgestanden und aus dem Büro gegangen sind, lag mein Gehirn in Scherben. Ist es möglich, sich binnen zehn Minuten in jemanden zu verlieben? Ich weiß absolut nichts über Sie. Ich weiß nicht einmal, ob Sie verheiratet sind oder mit jemandem zusammenleben, ob Sie frei sind oder nicht. Aber es wäre wunderbar, wenn ich mit Ihnen reden könnte, wunderbar, wenn ich Sie wieder sehen könnte. Hier draußen ist es übrigens recht nett. Eine seltsame, sehr flache Gegend. Ich stehe am Fenster und sehe auf die Stadt hinaus. Hunderte von Gebäuden, Hunderte von Straßen, aber alles ist still. Das Glas sperrt die Geräusche aus. Das Leben findet auf der anderen Seite des Fensters statt,während hier drin alles tot und unwirklich aussieht. Das Problem ist, dass ich nicht mehr sehr viel länger in dem Hotel bleiben kann. Ich kenne jemanden, der am anderen Ende der Stadt wohnt. Er ist der einzige Mensch, den ich hier bis jetzt kennen gelernt habe, und ich werde mich gleich auf die Suche nach ihm machen. Er heißt Ed Victory. Ich habe seine Karte in der Tasche und werde Ihnen seine Nummer geben, nur für den Fall, dass ich hier schon ausgezogen bin, bevor Sie anrufen. Vielleicht kann er Ihnen dann sagen, wo ich bin. 816 - 765 - 4321. Ich wiederhole: 816 - 765 - 4321. Das ist ja komisch. Mir fällt gerade auf, dass die Ziffern in absteigender Reihenfolge angeordnet sind. So eine Telefonnummer ist mir noch nie untergekommen. Glauben Sie, das hat was zu bedeuten? Wahrscheinlich nicht. Oder aber doch. Ich sag Ihnen Bescheid, wenn ich etwas herausfinde. Wenn ich nichts von Ihnen höre, melde ich mich in ein paar Tagen wieder. Adios.
Eine Woche verstreicht, ehe sie die Nachricht hört. Hätte Nick zwanzig Minuten früher angerufen, wäre sie ans Telefon gegangen, doch Rosa hat soeben ihre Wohnung verlassen und weiß daher nichts von seinem Anruf. Als Nick seinen Text auf ihre Maschine spricht, sitzt sie in einem Taxi, drei Blocks vor dem Eingang zum Holland Tunnel; sie fährt zum Newark Airport, von wo ein Nachmittagsflug sie nach Chicago bringen wird. Es ist Mittwoch. Am Samstag heiratet ihre Schwester, und da die Feier im Haus ihrer Eltern stattfinden und Rosa zu den Brautjungfern gehören wird, reist sie schon früher an, um bei den Vorbereitungen zu helfen. Sie hat ihre Eltern schon seit einiger Zeit nicht mehr gesehen und will den Besuch nutzen, um nach der Hochzeit noch ein paar Tagebei ihnen zu bleiben. Sie hat vor, am Dienstagmorgen nach New York zurückzukehren. Ein Mann hat ihr eine Liebeserklärung auf den Anrufbeantworter gesprochen, und eine ganze Woche wird vergehen, ehe sie davon erfährt.
An diesem selben Mittwochnachmittag denkt in einem anderen Teil von New York Eva, Nicks Frau, ebenfalls an Rosa Leightman. Nick ist seit gut vierzig Stunden verschwunden. Die Polizei weiß nichts von Unfällen oder Verbrechen, in die jemand verwickelt ist, auf den die Beschreibung ihres Mannes zutrifft; es sind weder schriftliche noch telefonische Lösegeldforderungen etwaiger Entführer eingegangen, und daher beginnt sie die Möglichkeit ins Auge zu fassen, dass Nick sich aus dem Staub gemacht hat, dass er sie aus freiem Willen verlassen hat. Bis dahin hat sie niemals geargwöhnt, dass er eine Geliebte haben könnte, aber als sie noch einmal Revue passieren lässt, was er ihr am Montagabend im Restaurant über Rosa erzählt hat, und als sie sich daran erinnert, wie fasziniert er von ihr gesprochen hat – er hat ja praktisch lauthals von ihr geschwärmt –, beginnt sie sich zu fragen, ob er nicht einfach durchgebrannt ist, um in den Armen des dünnen Mädchens mit den stachligen blonden Haaren Ehebruch zu begehen.
Sie schlägt Rosas Nummer im Telefonbuch nach und ruft sie an. Natürlich hebt niemand ab, denn Rosa sitzt bereits im Flugzeug. Eva hinterlässt eine kurze Nachricht und legt auf. Als Rosa nicht zurückruft, wählt Eva am Abend noch einmal ihre Nummer und hinterlässt eine weitere Nachricht. In den folgenden Tagen das Gleiche – ein Anruf morgens, ein Anruf abends –, und je länger Rosas Schweigen anhält, desto größer wird Evas Wut.Schließlich geht sie
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