Nacht des Orakels
zu dem Haus in Chelsea, in dem Rosa wohnt, steigt drei Treppen hoch und klopft an ihre Wohnungstür. Nichts geschieht. Sie klopft noch einmal, hämmert mit der Faust an die Tür, rüttelt daran, aber nichts rührt sich. Für Eva ist das der endgültige Beweis, dass Rosa mit Nick zusammen ist – eine irrationale Annahme, aber inzwischen ist Eva zu keinem logischen Gedanken mehr fähig; um das Verschwinden ihres Mannes zu erklären, konstruiert sie rasend vor Zorn eine Geschichte, die sich aus ihren finstersten Ängsten speist, ihren schlimmsten Befürchtungen für ihre Ehe und sich selbst. Sie kritzelt etwas auf ein Stück Papier und schiebt es unter Rosas Tür.
Ich muss mit Ihnen sprechen. Es geht um Nick
, schreibt sie.
Rufen Sie mich sofort an. Eva Bowen.
Unterdessen hat Nick das Hotel längst verlassen. Er hat Ed Victory aufgespürt, der in einem winzigen Zimmer im obersten Stock einer Pension im übelsten Teil der Stadt haust, einem Randgebiet, in dem es kaum etwas anderes gibt als zerfallende, leer stehende Lagerhäuser und ausgebrannte Gebäude. Die wenigen Menschen, die man auf der Straße sieht, sind schwarz, aber dieses Furcht erregende, verwüstete Viertel hat nur wenig Ähnlichkeit mit den Enklaven schwarzer Armut, die Nick aus anderen amerikanischen Städten kennt. Er befindet sich hier nicht in einem städtischen Ghetto, sondern eher in einer Zweigstelle der Hölle, in einem Niemandsland, das übersät ist mit leeren Weinflaschen, gebrauchten Spritzen und den rostigen Gerippen ausgeschlachteter Autos. Die Pension ist das einzige bewohnbare Gebäude im ganzen Block, zweifellos das letzte Überbleibsel dessen, was hier vor achtzig oder hundert Jahren einmal eine Wohngegend war. In jeder anderen Straße hätte man dieses Haus fürabbruchreif erklärt, aber in diesem Rahmen wirkt es geradezu einladend: ein dreigeschossiger Bau, von dem der gelbe Anstrich blättert, Treppen und Dach schief und krumm, jedes einzelne der neun Vorderfenster mit Sperrholzbrettern vernagelt.
Nick klopft an die Tür, aber es macht niemand auf. Er klopft noch einmal, und wenige Augenblicke später steht eine alte Frau in grünem Frotteemorgenmantel und billiger kastanienbrauner Perücke vor ihm – verwirrt und misstrauisch fragt sie, was er wolle. Ed, antwortet Nick, Ed Victory. Ich habe vor einer Stunde mit ihm telefoniert. Er erwartet mich. Eine kleine Ewigkeit sagt die Frau gar nichts. Sie mustert Nick von oben bis unten, starrt ihn aus toten Augen an, als sei er eine ihr unbekannte Lebensform, schaut auf die lederne Aktentasche in seiner Hand und dann wieder in sein Gesicht, fragt sich, was ein Weißer in ihrem Haus zu suchen hat. Nick greift in seine Tasche und zieht Eds Visitenkarte hervor in der Hoffnung, sie überzeugen zu können, dass er befugtermaßen hier aufgetaucht ist, aber die Frau ist halb blind, und als sie sich vorbeugt, um die Karte zu betrachten, wird Nick klar, dass sie die aufgedruckten Worte nicht erkennen kann. Er ist doch nicht in Schwierigkeiten?, fragt sie. Keine Schwierigkeiten, antwortet Nick. Jedenfalls nicht dass ich wüsste. Und Sie sind nicht von der Polizei?, sagt die Frau. Ich bin hier, um mir einen Rat zu holen, erklärt Nick, und Ed ist der Einzige, der ihn mir geben kann. Wieder folgt eine lange Pause, und schließlich zeigt die Frau auf die Treppe. Drei-G, sagt sie, die Tür links. Aber Sie müssen laut anklopfen. Um die Zeit schläft Ed gewöhnlich, und er hört nicht mehr gut.
Die Frau weiß, wovon sie redet, denn nachdem Nickdie dunkle Treppe hinaufgestiegen ist und am Ende des Flurs Ed Victorys Tür gefunden hat, muss er zehn-, zwölfmal anklopfen, bevor der ehemalige Taxifahrer ihn zum Eintreten auffordert. Dick und schwer, die Hosenträger lose herabhängend, die Hose am Bund aufgeknöpft, sitzt Nicks einziger Bekannter in Kansas City auf seinem Bett und hält eine Pistole direkt aufs Herz seines Besuchers gerichtet. Es ist das erste Mal, dass Bowen mit einer Waffe bedroht wird, doch bevor er richtig erschrecken und aus dem Zimmer fliehen kann, lässt Victory die Pistole sinken und legt sie auf den Nachttisch.
Sie sind das, sagt er. Der New Yorker Blitz.
Warum so nervös?, fragt Nick und spürt erst jetzt das Entsetzen vor einer möglichen Kugel in seiner Brust, obwohl die Gefahr längst vorüber ist.
Wir leben in unruhigen Zeiten, sagt Ed, und das ist eine unruhige Gegend. Man kann nie vorsichtig genug sein. Besonders wenn man siebenundsechzig ist und nicht mehr gut zu
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