Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
York
oder
Mister Unschuld
anzureden. Nick ist vollkommen zufrieden mit alldem. Er trägt die Sachen, die er bei der Kleiderkammer erstanden hat (Flanellhemden, Jeans und Khakihosen, weiße Kniestrümpfe und zerschlissene Basketballschuhe), und fragt sich, was das für Männer gewesen sein mögen, denen diese Kleidungsstücke ursprünglich einmal gehört haben. Abgelegte Kleider können aus nur zwei Quellen stammen und werden aus nur zwei Gründen weggegeben. Jemandem gefällt etwas nicht mehr, und er spendet es einer Hilfsorganisation, oder aber jemand stirbt, und die Erben geben seine Sachen weg, um ein bisschen Steuern zu sparen. Nick freundet sich mit der Vorstellung an, in den Kleidern eines Toten herumzulaufen. Da er selbst nicht mehr existiert, scheint es ihm angemessen, die Garderobe eines Mannes zu tragen, der ebenfalls nicht mehr existiert – als trüge diese doppelte Verneinung dazu bei, seine Vergangenheit noch gründlicher, noch radikaler auszulöschen.
    Aber Nick muss trotzdem auf der Hut bleiben. Er und Ed legen bei der Arbeit häufig Pausen ein, und während dieser Unterbrechungen ihrer Schufterei vertreibt Ed sich gern die Zeit, indem er aus seinem Leben erzählt, wobei er manche seiner Bemerkungen mit einem kräftigen Schluck aus der Bierdose unterstreicht. Nick erfährt von Wilhamena, Eds erster Frau, die 1953 eines Morgens mit einem Detroiter Schnapshändler durchgebrannt war, und von Rochelle, Wilhamenas Nachfolgerin, die ihmdrei Töchter gebar und 1969 an einem Herzleiden starb. Ed ist ein einnehmender Erzähler, findet Nick, aber er hält sich bewusst zurück, ihm irgendwelche konkreten Fragen zu stellen – um ihm keinen Anlass zu geben, seinerseits solche Fragen an ihn zu richten. Sie haben einen stillschweigenden Pakt geschlossen, nicht an die Geheimnisse des anderen zu rühren, und so gern Nick zum Beispiel erfahren würde, ob Victory Eds richtiger Name ist, oder ob er rechtmäßiger Besitzer des unterirdischen Raumes ist, in dem das Büro für Geschichtspflege untergebracht ist, oder ob er ihn sich einfach angeeignet hat, ohne von den Behörden erwischt zu werden, bringt er diese Dinge nie zur Sprache und begnügt sich damit, dem zu lauschen, was Ed ihm aus freien Stücken auftischt. Gefährlicher sind die Augenblicke, in denen Nick sich beinahe verrät, und dann ermahnt er sich jedes Mal, seine Zunge besser im Zaum zu halten. Als Ed eines Nachmittags von seinen Erlebnissen als Soldat im Zweiten Weltkrieg erzählt, erwähnt er den Namen eines jungen Gefreiten, der Ende vierundvierzig zu seinem Regiment gestoßen war: John Trause. Gerade mal achtzehn Jahre alt, sagt Ed, aber der aufgeweckteste, gescheiteste Bursche, den er je kennen gelernt habe. Jetzt ist er ein berühmter Schriftsteller, fährt er fort, und wenn man bedenkt, was für einen scharfen Verstand der Junge hatte, wundert einen das nicht. Hier unterläuft Nick ein Fehler, der ihm um ein Haar zum Verhängnis geworden wäre. Den kenne ich, sagt er, und als Ed aufblickt und ihn fragt, wie es John denn jetzt so gehe, verwischt Nick sogleich wieder alle Spuren, indem er seine Bemerkung genauer ausführt. Nicht persönlich, sagt er. Ich meine seine Bücher, ich habe seine Bücher gelesen, und damit ist dasThema erledigt, und sie kommen auf anderes zu sprechen. Die Wahrheit sieht freilich so aus, dass Nick mit John zusammenarbeitet und der für seine Veröffentlichungen zuständige Lektor ist. Gerade erst vor einem Monat hat er die Arbeit an den neuen Umschlägen für die Taschenbuchausgaben von Trauses Romanen abgeschlossen. Er kennt ihn seit Jahren, und überhaupt hatte er sich für den Job bei dem Verlag, für den er arbeitet (beziehungsweise bis vor wenigen Tagen gearbeitet hatte), vor allem deswegen beworben, weil dort Johns Romane erschienen.
    Nick beginnt seine Arbeit am Donnerstagmorgen, und Eds Telefonbücher nach einem neuen Schema zu sortieren, das ist, was das schiere Gewicht der zu bewegenden Massen angeht, eine ungeheure, eine entmutigende Aufgabe – zahllose sperrige Tausendseitenbände müssen aus den Regalen genommen, durch die Gänge geschoben und in andere Regale gestellt werden, und es geht nur langsam voran, viel langsamer, als sie es sich vorgestellt hatten. Sie beschließen, das ganze Wochenende durchzuarbeiten, und am Mittwoch der folgenden Woche (das ist der Tag, an dem Eva in einen Kopierladen geht, um das Plakat anzufertigen, das ihr bei der Suche nach ihrem verschwundenen Mann helfen soll, und es ist

Weitere Kostenlose Bücher