Nacht des Orakels
Schließbands. Das Ganze ist eine einzige fließende, routinierte Bewegung, bemerkt Nick, offenbar das Ergebnis zahlloser Besuche in diesem feuchten unterirdischen Versteck. Ed gibt der Tür einen leichten Stoß, und als sie aufschwingt und Nick in das Dunkel dahinter späht, sieht er gar nichts. Ed schubst ihn sachte beiseite, tritt über die Schwelle, und gleich darauf hört Nick das Klicken eines Lichtschalters, dann noch einmal, und ein drittes Mal, und vielleicht auch noch ein viertes Mal. In einer abgehackten Folge von Blitzen, die zitternd und surrend aufflackern, gehen an der Decke mehrere Reihen von Neonröhren an, und nun blickt Nick in einen großen Lagerraum, ein fensterloses Reich von etwa neun mal fünfzehn Metern Größe. Graue, exakt parallel ausgerichtete Bücherregale aus Metall füllen den gesamten Raum bis hinauf zur Decke in gut dreieinhalb Metern Höhe. Bowen ist, als habe er das Magazin einer Geheimbibliothek betreten, eine Sammlung verbotener Bücher, die zu lesen nur Eingeweihten vorbehalten ist.
Das Büro für Geschichtspflege, sagt Ed und macht eine kleine Handbewegung. Schauen Sie sich um. FassenSie nichts an, aber sehen Sie sich um, so lange wie sie wollen.
Die Umstände sind so bizarr, so weit weg von allem, was Nick erwartet hat, dass er nicht einmal Vermutungen darüber anstellen kann, was ihm bevorsteht. Er geht durch den ersten Gang und bemerkt, dass die Regale mit Telefonbüchern voll gestellt sind. Hunderte von Telefonbüchern, Tausende von Telefonbüchern, alphabetisch nach Städten geordnet, und hier wiederum chronologisch sortiert. Er ist zufällig in der Reihe, in der sich Baltimore und Boston befinden. Er prüft die Jahreszahlen auf den Buchrücken und stellt fest, dass das früheste Baltimore-Telefonbuch aus dem Jahr 1927 stammt. Danach gibt es einige Lücken, aber ab 1946 ist die Sammlung bis zum aktuellen Jahr, 1982, komplett. Das erste Boston-Buch ist sogar noch älter, nämlich von 1919, aber auch hier fehlen bis 1946 mehrere Bände, und erst ab da ist die Reihe wieder vollständig. Aus diesen kargen Hinweisen schließt Nick, dass Ed die Sammlung 1946 begonnen hat, also ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, zufällig auch das Jahr, in dem Bowen geboren wurde. Sechsunddreißig Jahre, gewidmet einem gewaltigen und scheinbar sinnlosen Unterfangen, das zeitlich exakt mit seiner eigenen Lebensspanne übereinstimmt.
Atlanta, Buffalo, Cincinnati, Chicago, Detroit, Houston, Kansas City, Los Angeles, Miami, Minneapolis, die fünf Bezirke von New York, Philadelphia, St. Louis, San Francisco, Seattle – alle amerikanischen Metropolen sind vertreten, und dazu Dutzende kleinerer Städte, ländliche Gebiete in Alabama, Vorstadtsiedlungen in Connecticut und freie Gemeinden in Maine. Aber Amerika ist noch nicht alles. Vier der vierundzwanzig Doppelreihendeckenhoher Metallregale sind Groß- und Kleinstädten im Ausland vorbehalten. Diese Sammlungen sind nicht so umfangreich und erschöpfend wie ihr einheimisches Gegenstück, doch sind neben Kanada und Mexiko die meisten Staaten West- und Osteuropas mit ihren wichtigsten Städten vertreten: London, Madrid, Stockholm, Paris, München, Prag, Budapest. Nick kann nur staunen, als er sieht, dass Ed sogar ein Warschauer Telefonbuch von 1937/38 aufgetrieben hat:
Spis Abonentów Warszawskiej Sieci TELEFONÓW.
Als Nick noch mit sich ringt, ob er es aus dem Regal ziehen soll, kommt ihm der Gedanke, dass praktisch jeder in diesem Buch verzeichnete Jude inzwischen längst tot ist – ermordet, bevor Ed mit seiner Sammlung überhaupt angefangen hat.
Der Rundgang dauert zehn, fünfzehn Minuten, und was auch immer Nick sich ansieht – Ed steht mit einem sanften Lächeln im Gesicht daneben und genießt sichtlich die Verblüffung seines Gastes. Als sie zum letzten Regal an der Südseite des Raums gelangen, bemerkt Ed: Der Mann steht vor einem Rätsel. Er fragt sich: Was zum Teufel soll das?
So könnte man es ausdrücken, antwortet Nick.
Irgendeine Idee – oder bloß vollkommen verwirrt?
Ich bin mir nicht sicher, aber ich habe den Eindruck, Sie machen das nicht nur zum Zeitvertreib. So viel scheint mir klar. Sie sammeln nicht um des Sammelns willen. Kronkorken, Zigarettenschachteln, Hotelaschenbecher, kleine Glaselefanten. Manche Leute sind immerzu auf der Suche nach irgendwelchem Plunder. Aber diese Telefonbücher sind kein Plunder. Die bedeuten Ihnen etwas.
In diesem Raum ist die Welt enthalten, erwidert Ed. Oder zumindest ein
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