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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Teil davon. Namen von Lebendenund Toten. Das Büro für Geschichtspflege ist ein Haus der Erinnerung, aber auch ein Schrein der Gegenwart. Dadurch, dass ich diese zwei Dinge an einem Ort zusammenbringe, beweise ich mir, dass die Menschheit noch nicht am Ende ist.
    Ich glaube, ich kann Ihnen nicht folgen.
    Ich habe das Ende aller Dinge gesehen, Blitz. Ich bin in die Eingeweide der Hölle gestiegen, und ich habe das Ende gesehen. Von einer solchen Reise zurückgekehrt, lebt man vielleicht noch lange weiter, aber ein Teil von einem ist für immer tot.
    Wann ist das passiert?
    Im April 1945.   Meine Einheit war in Deutschland, und wir waren es, die Dachau befreit haben. Dreißigtausend noch atmende Skelette. Sie kennen die Bilder, aber die Bilder sagen Ihnen nicht, wie es wirklich war. Man muss selbst dort hingehen, muss es selbst riechen, muss dort sein und es mit eigenen Händen berühren. Menschen haben das Menschen angetan, und sie haben es mit reinem Gewissen getan. Das war das Ende der Menschheit, Mister Unschuld. Gott hat sein Auge von uns abgewandt und die Welt für immer verlassen. Und ich habe es selbst mit angesehen.
    Wie lange waren Sie in dem Lager?
    Zwei Monate. Ich war Koch, also habe ich in der Feldküche gearbeitet. Die Überlebenden zu füttern, das war meine Aufgabe. Sie haben bestimmt davon gelesen, wie manche einfach nicht mehr aufhören konnten zu essen. Die halb Verhungerten. Sie hatten so lange nur ans Essen gedacht, dass sie gar nicht mehr anders konnten. Sie aßen, bis ihnen der Magen platzte, und starben. Zu Hunderten. Am zweiten Tag kam eine Frau mit einem Babyim Arm zu mir. Sie hatte den Verstand verloren, diese Frau, das sah ich, das sah ich an ihren Augen, die unaufhörlich hin und her zuckten, und dünn war sie, so unterernährt, dass ich gar nicht begreifen konnte, wie sie es überhaupt schaffte, aufrecht stehen zu bleiben. Sie wollte nichts zu essen von mir, sie wollte nur, dass ich dem Baby etwas Milch gebe. Den Gefallen tat ich ihr gerne, aber als sie mir das Baby reichte, sah ich, dass es tot war, dass es schon seit Tagen tot war. Sein Gesicht war eingeschrumpelt und schwarz, schwärzer als mein eigenes, ein winziges Ding, das fast gar nichts mehr wog, nur noch runzlige Haut und getrockneter Eiter und schwerelose Knochen. Aber die Frau bettelte weiter um Milch, und da habe ich dem Baby etwas auf die Lippen gegossen. Ich wusste nicht, was ich sonst hätte tun sollen. Ich habe dem toten Baby etwas Milch auf die Lippen gegossen, und dann hat die Frau ihr Kind wieder an sich genommen – so glücklich, so glücklich, dass sie leise vor sich hinsummte, oder eher sang, ja, und dieser Gesang hörte sich an wie ein vergnügtes Gurren. Ich weiß nicht, ob ich jemals einen glücklicheren Menschen als diese Frau gesehen habe – wie sie mit ihrem toten Baby in den Armen davonging, vor Glück singend, weil sie ihm endlich etwas Milch hatte geben können. Ich sah ihr nach. Sie taumelte vier, fünf Meter weiter, und dann gaben ihre Knie nach, und ehe ich hinlaufen und sie auffangen konnte, fiel sie tot in den Schlamm. Damit hat die Sache für mich angefangen. Als ich diese Frau sterben sah, wusste ich, dass ich etwas unternehmen musste. Ich konnte nach dem Krieg nicht einfach nach Hause gehen und das alles vergessen. Ich musste diesen Ort in meinem Kopf behalten und für den Rest meines Lebens täglich darüber nachdenken.
    Nick kann ihm immer noch nicht folgen. Er begreift, dass Ed Ungeheuerliches erlebt hat, er kann Schmerz und Schrecken mitempfinden, die ihn seither verfolgen, aber wie diese Gefühle zu dem verrückten Plan geführt haben, Telefonbücher zu sammeln, das entzieht sich seinem Verständnis. Er kann sich hundert andere Möglichkeiten vorstellen, die Erfahrung des Todeslagers in eine lebenslange Betätigung umzusetzen, aber dieses seltsame unterirdische Archiv mit Namen von Menschen aus der ganzen Welt gehört nicht dazu. Aber darf er sich ein Urteil über die Leidenschaft eines anderen Menschen erlauben? Bowen braucht Arbeit, Ed gefällt ihm, und er hat keine Bedenken, ihm die nächsten Wochen oder Monate bei der Neuorganisation des Bücherbestandes zu helfen, so unnütz diese Arbeit auch sein mag. Die beiden Männer einigen sich über Bezahlung, Arbeitszeit und so weiter und besiegeln den Vertrag per Handschlag. Aber Nick befindet sich immer noch in der peinlichen Situation, um einen Vorschuss auf seinen künftigen Lohn bitten zu müssen. Er braucht Kleidung und ein Dach überm

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