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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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weitergehen kann. Nick versichert, er sei bereit, alleine weiterzumachen; gerührt von der Loyalität seines Helfers, schließt Ed die Augen, um die unwillkürlich aufsteigenden Tränen zurückzuhalten, und sagt, er sei ein guter Mensch. Da er zu schwach ist, das selbst zu tun, bittet er ihn, in seine Hosentasche zu greifen und Portemonnaie und Schlüsselring herauszuholen. Als Nick die beiden Gegenstände zutage gefördert hat, sagt Ed, er solle das Portemonnaie aufmachen und alles Bargeld an sich nehmen. Lassen sie mir bloß zwanzig Dollar, sagt er, den Rest behalten Sie – als Vorschuss auf Ihre Arbeit. Hier erfährt Nick, dass Eds richtiger Name Johnson ist, aber er kommt schnell zu dem Schluss, dass diese Entdeckung wenig zu bedeuten hat, und äußert sich nicht dazu. Stattdessen zählt er das Geld ab, über sechshundert Dollar, und steckt sich das Bündel in die vordere rechte Hosentasche. Danach erklärt Ed ihm – es ist eine atemlose Litanei, mühsam kämpft er beim Sprechen gegen die Schmerzen an – jeden einzelnen Schlüssel an dem Ring: Haustür der Pension, Tür seines Zimmers, Postfach beider örtlichen Post, Vorhängeschloss an der Holztür des Büros, Tür zur unterirdischen Wohnung. Während Bowen seinen eigenen Schlüssel zu dieser Wohnung auf den Ring fädelt, sagt Ed, er erwarte diese Woche einen größeren Posten europäischer Telefonbücher, Nick solle also daran denken, am Freitag bei der Post vorbeizugehen. Auf diese Bemerkung folgt ein langes Schweigen, Ed zieht sich in sich selbst zurück und kann nur noch um Atem ringen, doch kurz bevor sie das Krankenhaus erreichen, macht er die Augen auf und sagt Nick, er könne gern sein Zimmer in der Pension benutzen, solange er nicht da sei. Nick schlägt das Angebot nach kurzem Nachdenken aus. Das ist sehr freundlich von Ihnen, sagt er, aber es ist nicht nötig, irgendetwas zu ändern. Ich bin zufrieden in meinem Loch.
    Er wartet mehrere Stunden lang im Saint Anselm’s Hospital, denn er will erst sicher sein, dass Ed außer Gefahr ist, bevor er geht. Für den nächsten Morgen wird eine dreifache Bypass-Operation angesetzt, und als Nick um drei Uhr das Krankenhaus verlässt, ist er zuversichtlich, dass Ed, wenn er ihn morgen Nachmittag besucht, bereits auf dem Weg der Besserung sein wird. Das jedenfalls glaubt er aus den Worten des Kardiologen schließen zu können. Aber nichts ist sicher im Reich ärztlichen Wirkens, schon gar nicht, wenn mit Messern im Fleisch kranker Körper herumgeschnitten wird, und als Edward M.   Johnson, besser bekannt als Ed Victory, am Donnerstagmorgen auf dem O P-Tisch sein Leben aushaucht, kann der Kardiologe, der Nick am Tag zuvor eine so günstige Prognose gegeben hat, nur noch seinen Irrtum eingestehen.
    Inzwischen ist Nick nicht mehr in der Lage, den Arztzu fragen, warum sein Freund es nicht geschafft hat. Am Mittwoch, keine Stunde nachdem Bowen in das unterirdische Archiv zurückgekehrt ist, begeht er einen der großen Fehler seines Lebens, und da er voraussetzt, dass Ed am Leben bleiben wird – und an dieser Voraussetzung auch noch festhält, als sein Boss schon gestorben ist   –, kann er nichts von dem wahrhaft gigantischen Ausmaß der Katastrophe ahnen, die er sich selbst bereitet hat.
    Den Schlüsselring und das Bargeld, das Ed ihm gegeben hat, trägt Nick in der vorderen rechten Hosentasche, als er die Leiter zum Eingang des Büros hinuntersteigt. Nachdem er das Vorhängeschloss an der Holztür entfernt hat, steckt er die Schlüssel in die linke Tasche der alten, abgetragenen Khakihose aus der Kleiderkammer. Diese Tasche hat jedoch ein großes Loch, die Schlüssel fallen hindurch, rutschen an seinem Bein entlang und landen an seinen Füßen. Er bückt sich und hebt sie auf, doch statt sie in die rechte Tasche zu stecken, behält er sie in der Hand, trägt sie dorthin, wo er mit der Arbeit anfangen will, und legt sie in ein Regal vor eine Reihe Telefonbücher – sie sollen ihm nicht die Tasche ausbeulen und sich in sein Bein bohren, wenn er Bücher herumwuchtet und durch die Gänge schiebt, sich ständig hinhocken und aufstehen muss. Die Luft in dem unterirdischen Raum ist an diesem Tag besonders klamm. Nick hofft, durch die Bewegung werde ihm schon warm, und arbeitet eine halbe Stunde, aber als ihm die Kälte immer tiefer in die Knochen kriecht, beschließt er, sich in das Zimmer nebenan zurückzuziehen, das mit einem tragbaren Radiator ausgestattet ist. Er denkt an die Schlüssel, geht zu der Stelle, wo

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