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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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zufällig auch der Tag, an dem Rosa Leightman nach New York zurückkommt und Bowens liebeskranke Ansprachen auf ihrem Anrufbeantworter hört) schlägt Nicks wachsende Sorge um Eds Gesundheit regelrecht in Panik um. Der ehemalige Taxifahrer ist siebenundsechzig Jahre alt und hat mindestens siebenundsechzig Pfund Übergewicht. Er raucht drei Päckchen filterlose Zigaretten am Tag, hat Probleme beim Gehen, Probleme beim Atmen und zunehmend Problememit seinen von Cholesterin verstopften Arterien. Er hat schon zwei Herzinfarkte hinter sich und ist überhaupt nicht in der Verfassung, die Arbeit zu tun, die er und Nick sich vorgenommen haben. Allein das tägliche Leitersteigen verlangt enorme Anstrengung, Konzentration und Willenskraft und nimmt ihn so sehr mit, dass er kaum noch Luft bekommt, wenn er einen Auf- oder Abstieg bewältigt hat. Nick hat das von Anfang an bemerkt und Ed immer wieder ermuntert, er solle sich setzen und ausruhen, hat ihm versichert, er könne die Arbeit auch alleine tun, aber Ed ist ein sturer Bursche, ein Mann mit einer Vision, und jetzt, da die Erfüllung seines Traums von der Neuordnung seines Telefonbuchmuseums endlich in Reichweite ist, ignoriert er Bowens Ratschläge und drängt ihm bei jeder Gelegenheit seine Hilfe auf. Am Mittwochvormittag nimmt das Ganze schließlich eine bedrohlichere Wendung. Als Nick mit seiner leeren Apfelkiste aus einem entfernten Winkel des Raums zurückkommt, sieht er Ed an ein Regal gelehnt auf dem Fußboden sitzen. Er hat die Augen geschlossen und hält die rechte Hand aufs Herz gepresst.
    Brustschmerzen, sagt Nick, der sofort den richtigen Schluss zieht. Sehr schlimm?
    Nur eine Minute, sagt Ed. Das wird schon wieder.
    Aber Nick lässt diese Antwort nicht gelten und besteht darauf, Ed in die Notaufnahme der nächsten Klinik zu bringen. Nach kurzem, nicht ernst gemeintem Widerstand erklärt Ed sich einverstanden.
    Über eine Stunde vergeht, bis die zwei auf der Rückbank eines Taxis sitzen, das sie zum Saint Anselm’s Hospital bringen soll. Als Erstes muss die mühsame Aufgabe bewältigt werden, Eds schweren, massigen Körper dieLeiter hinaufzuschieben und ins Freie zu bringen; dann ergibt sich das nicht weniger heikle Problem, in diesem finsteren, verlassenen Teil der Stadt ein Taxi aufzutreiben. Nick läuft zwanzig Minuten lang herum, ehe er ein funktionierendes Münztelefon findet, und nachdem er die Taxifirma Red & White (Eds früheren Arbeitgeber) erreicht hat, dauert es noch einmal eine Viertelstunde, bis der Wagen endlich aufkreuzt. Nick weist den Fahrer an, ihn zu den Eisenbahnschienen am Fluss zu bringen. Dort liegt Ed noch immer auf dem Schotter ausgestreckt; er hat beträchtliche Schmerzen (ist aber noch bei Bewusstsein, noch hinreichend Herr seiner Sinne, um ein paar Witze zu reißen, als sie ihm ins Taxi helfen); sie heben den schlaffen Körper auf und fahren ihn ins Krankenhaus.
    Dieser Notfall erklärt, warum Rosa Leightman im späteren Verlauf des Tages Ed nicht am Telefon erreicht. Der unter dem Namen Victory bekannte Mann, dessen Führerschein und Krankenkassenkarte ihn jedoch als Johnson ausweisen, hat seinen dritten Herzinfarkt erlitten. Als Rosa in ihrer New Yorker Wohnung seine Nummer wählt, liegt er bereits auf der Intensivstation des Saint Anselm’s Hospital und wird, das ist seinen in der Tabelle am Fußende des Betts verzeichneten Herz-Kreislauf-Daten zu entnehmen, auch nicht so bald in seine Pension zurückkehren können. Von diesem Mittwoch bis zu ihrer Abreise nach Kansas City am Samstagmorgen versucht Rosa ihn immer wieder zu allen möglichen Tages- und Nachtzeiten zu erreichen, aber in der ganzen Zeit ist niemand da, der das Telefon läuten hört.
    Auf der Fahrt zum Krankenhaus denkt Ed bereits an die Zukunft, bereitet sich auf die zu erwartenden schlechten Nachrichten vor, auch wenn er so tut, als mache ersich keine Sorgen. Ich bin fett, sagt er zu Nick, und fette Menschen sterben nicht. Das ist ein Naturgesetz. Die Welt kann uns schlagen, aber wir spüren nichts davon. Dafür sind wir ja so gut gepolstert – damit wir vor solchen Attacken geschützt sind.
    Nick sagt ihm, er solle nicht sprechen. Schonen Sie Ihre Kräfte, sagt er. Ed versucht die in seiner Brust, im linken Arm und im Gesicht tobenden Schmerzen niederzuringen und richtet seine Gedanken auf das Büro für Geschichtspflege. Ich werde wahrscheinlich einige Zeit im Krankenhaus bleiben müssen, sagt er, und es bedrückt mich, dass die angefangene Arbeit jetzt nicht

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