Nacht des Orakels
er sie hat liegen lassen, und nimmt sie wieder an sich. Statt jedoch direkt zu der Tür am anderen Ende desRaums zu gehen, denkt er plötzlich an das Warschauer Telefonbuch von 1937/38, das er bemerkt hatte, als Ed zum ersten Mal mit ihm hier unten war. Er will es holen, um es ins Zimmer mitzunehmen und sich in der Pause genauer anzusehen. Wieder legt er die Schlüssel in ein Regal, aber diesmal vergisst er, ganz auf die Suche nach dem Buch fixiert, sie wieder an sich zu nehmen, nachdem er es gefunden hat. Unter normalen Umständen hätte das keine Folgen gehabt. Er hätte die Schlüssel gebraucht, um überhaupt in das Zimmer zu gelangen, und wäre, sobald er sein Versäumnis bemerkt hätte, noch einmal zurückgegangen, um sie zu holen. An diesem Vormittag aber war die Tür in der Hektik nach Eds Zusammenbruch offen geblieben, und als Nick jetzt auf diese Tür zugeht, wobei er bereits in dem Warschauer Telefonbuch herumblättert und an die schaurigen Geschichten denken muss, die Ed ihm aus dem Jahr 1945 erzählt hat, ist er so zerstreut, dass er gar nicht darauf achtet, was er tut. Falls er überhaupt an die Schlüssel denkt, wird er davon ausgehen, dass er sie in seine rechte Hosentasche gesteckt hat, und so betritt er das Zimmer, macht Licht, tritt die Tür hinter sich zu – und schließt sich damit selbst ein. Ed hat eine Sicherheitstür eingebaut, die sich auch von innen nur mit einem Schlüssel öffnen lässt.
Da er den Schlüssel in seiner Tasche wähnt, ahnt Nick noch immer nicht, was er angerichtet hat. Er schaltet den Radiator ein, setzt sich aufs Bett und vertieft sich in das Warschauer Telefonbuch, widmet den spröden gebräunten Seiten seine ganze Aufmerksamkeit. Eine Stunde vergeht, und als Nick sich hinreichend aufgewärmt fühlt, um weiterarbeiten zu können, erkennt er endlich seinen Fehler. Zunächst lacht er darüber, aber als ihm allmählichdie fürchterliche Wahrheit dämmert, erstirbt sein Lachen, und es folgen zwei Stunden, in denen er verzweifelt nach einem Ausweg sucht.
Der Bunker ist für einen Angriff mit Wasserstoffbomben ausgelegt, also kein gewöhnliches Zimmer: die zweifach isolierten Wände sind einen Meter zwanzig dick, der Betonboden erstreckt sich in eine Tiefe von neunzig Zentimetern, und auch die Decke, von der Bowen vermutet, sie könnte noch am ehesten ein Schwachpunkt sein, ist aus einer stabilen, unüberwindlichen Gipsbetonmischung konstruiert. Oben an den Wänden gibt es Luftschächte, aber nachdem es Bowen gelungen ist, eines der Gitter aus dem kompakten Metallrahmen zu lösen, muss er einsehen, dass die Öffnung zu eng ist: da kann niemand durchkriechen, nicht einmal ein vergleichsweise kleiner Mann wie er.
Oberirdisch, im hellen Licht der Nachmittagssonne, klebt Nicks Frau Zettel mit seinem Gesicht an jede Mauer und jeden Laternenpfahl in der Innenstadt von Kansas City, und wenn am nächsten Morgen die Bewohner der Vorstädte aus dem Bett steigen und sich zum Frühstückskaffee in die Küche begeben, werden sie auf Seite sieben der Morgenzeitung auf dasselbe Bild stoßen: HABEN SIE DIESEN MANN GESEHEN?
Erschöpft von seinen Anstrengungen, setzt Nick sich aufs Bett und versucht seine Situation in aller Ruhe einzuschätzen. Trotz allem, findet er, besteht kein Grund zur Panik. Kühlschrank und Schränke sind mit Lebensmitteln gefüllt, es gibt reichliche Vorräte an Wasser und Bier, und notfalls könnte er zwei Wochen relativ komfortabel überstehen. Aber so lange wird es nicht dauern, sagt er sich, nicht einmal halb so lang. Ed wird in wenigen Tagenaus dem Krankenhaus kommen, und wenn er erst einmal wieder die Leiter hinunterklettern kann, wird er hier auftauchen und ihn aus seiner Zwangslage befreien.
Da ihm nichts anderes übrig bleibt, findet Nick sich mit der vorübergehenden Einzelhaft ab und hofft nur, dass er hinreichend Geduld und Kraft aufbringen wird, diese absurde Lage zu ertragen. Er vertreibt sich die Zeit mit der Lektüre des Manuskripts von
Nacht des Orakels
und beschäftigt sich intensiv mit dem Warschauer Telefonbuch. Er denkt nach, er träumt, er macht tausend Liegestütze am Tag. Er macht Pläne für die Zukunft. Er gibt sich alle Mühe, nicht an die Vergangenheit zu denken. Er glaubt zwar nicht an Gott, sagt sich aber, dass Gott ihn auf die Probe stellt – und dass es ihm aufgegeben ist, sein Missgeschick mit Würde und Gleichmut anzunehmen.
Als Rosa Leightmans Bus am Sonntagabend in Kansas City eintrifft, ist Nick seit fünf Tagen in dem
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