Nacht des Orakels
Notizbuch nichts als Freude empfunden, ein begeistertes, manisches Gefühl der Erfüllung. Die Worte waren aus mir herausgeströmt, als hätte ich ein Diktat aufgenommen, die Sätze einer Stimme aufgeschrieben, die in der kristallklaren Sprache von Träumen, Albträumen und ungehemmten Gedanken zu mir kamen. Am Morgen des 20. September jedoch, zwei Tage nach dem fraglichen Tag, verstummte diese Stimme plötzlich. Ich schlug das Notizbuch auf, und als ich auf das Blatt vor mir sah, erkannte ich, dass ich mich verrannt hatte, dass ich nicht mehr wusste, was ich tat. Ich hatte Bowen in das Zimmer gebracht. Ich hatte die Tür zugeschlagen und das Licht gelöscht und keinen blassen Schimmer, wie ich ihn da wieder rausholen sollte. Dutzende Lösungen kamen mir in den Sinn, aber die schienen mir alle banal, mechanisch, langweilig. Nick in dem unterirdischen Strahlenschutzbunker einzuschließen, hatte mich unwiderstehlich gereizt – eine Idee voller Schrecken und Geheimnisse, keiner rationalen Erklärung zugänglich –, das wollte ich nicht aus der Hand geben. Aber indem ich die Geschichte in diese Richtung getrieben hatte, war ich vom Ausgangspunkt der Übung abgewichen. Mein Held beschritt nicht mehr denselben Pfad, dem Flitcraft gefolgt war. Hammett beendet seine Parabel mit einer sauberen komischenWendung, und obwohl sein Schluss etwas Unausweichliches hat, fand ich ihn für meinen Geschmack ein wenig zu glatt. Nachdem er ein paar Jahre lang umhergezogen ist, landet Flitcraft schließlich in Spokane und heiratet eine Frau, die praktisch eine Doppelgängerin seiner ersten ist. Sam Spade erklärt das Birgid O’Shaughnessy so: «Ich glaube, es ist ihm gar nicht bewusst gewesen, dass er wie von selbst wieder in das alte Gleis geraten war, aus dem er in Tacoma gesprungen war. Aber gerade das hat mir gefallen. Er hatte sich auf herabstürzende Balken eingestellt, und als dann keine mehr herabstürzten, hat er sich eben darauf eingestellt.» Clever, symmetrisch und voller Ironie – aber nicht stark genug für die Art von Geschichten, die ich erzählen wollte. Über eine Stunde saß ich mit dem Füller in der Hand an meinem Schreibtisch, ohne ein einziges Wort zu schreiben. Vielleicht war es das, was John gemeint hatte, als er von der «Grausamkeit» dieser portugiesischen Notizbücher sprach. Eine Zeit lang stürmte man, beflügelt vom Gefühl der eigenen Kraft, in ihnen dahin, ein geistiger Supermann, der mit flatterndem Umhang durch einen strahlend blauen Himmel jagte, nur um plötzlich und unvermittelt auf die Erde zu stürzen. Nach so viel Begeisterung und Wunschdenken (bis zu dem Punkt, muss ich gestehen, dass ich mir ausmalte, aus der Geschichte womöglich einen Roman machen zu können, was mich in die Lage versetzt hätte, etwas Geld zu verdienen und wieder einen ersten Beitrag zu unserem Haushalt zu leisten) erfüllte es mich mit Abscheu und Scham, dass drei Dutzend hastig voll gekritzelter Seiten mich zu der Annahme hatten verleiten können, ich hätte mich selbst aus dem Sumpf gezogen. Dabei hatte ich bloß das Kunststück fertig gebracht, mich selbst indie Enge zu treiben. Vielleicht gab es einen Ausweg, aber fürs Erste sah ich keinen. Das Einzige, was ich an diesem Morgen sehen konnte, war mein unglücklicher kleiner Held, der im Dunkel seines unterirdischen Zimmers auf Rettung wartete.
Es war warm an diesem Tag, um die 16 Grad, allerdings wieder bewölkt, und als ich um halb zwölf die Wohnung verließ, sah es ganz nach Regen aus. Ich verzichtete aber darauf, nur wegen eines Schirms noch einmal zurückzugehen. Drei Stockwerke rauf und wieder runter hätte mich zu viel Kraft gekostet, also beschloss ich, es zu riskieren, und setzte auf die Chance, dass der Regen noch bis zu meiner Rückkehr warten würde.
Die nächtliche Arbeitssitzung zeigte nun doch Wirkung: Langsam ging ich die Court Street hinunter, leicht benommen und verunsichert. Bis zu dem Block zwischen Carroll und President brauchte ich über eine Viertelstunde. Die Schusterwerkstatt hatte geöffnet, genau wie am Samstagmorgen, ebenso die Bodega zwei Häuser weiter, aber das Geschäft dazwischen stand leer. Noch achtundvierzig Stunden zuvor war Changs Laden voll in Betrieb gewesen, das Schaufenster hübsch dekoriert, eine überreichliche Fülle von Schreibwaren im Angebot, und jetzt war von alldem zu meiner totalen Verblüffung nichts mehr da. Ein mit einem Vorhängeschloss gesichertes Gitter erstreckte sich über die Fassade, und als ich
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