Nacht des Orakels
Zimmer eingeschlossen. Die Rettung naht, sagt er sich, Ed kann jetzt jederzeit kommen, und zehn Minuten nachdem er das gedacht hat, brennt die Glühbirne der Deckenlampe durch, und Nick sitzt allein im Dunkeln und starrt in die orangerot glühenden Spiralen des Radiators.
Die Ärzte hatten mir gesagt, für meine Genesung sei es wichtig, dass ich ein regelmäßiges Leben führe und jede Nacht ausreichend schlafe. Bis halb vier Uhr morgens zu arbeiten war sicher keine sehr intelligente Idee, aber ich war so sehr in das blaue Notizbuch vertieft gewesen, dass ich gar nicht mehr an die Uhrzeit gedachthatte, und als ich mich um viertel vor vier neben Grace ins Bett legte, ging ich davon aus, dass ich diese Abweichung von meiner Lebensweise wahrscheinlich teuer würde bezahlen müssen. Wieder mal Nasenbluten, vielleicht, oder ein neuer Schwächeanfall, oder anhaltend starke Kopfschmerzen – irgendetwas, was meinen Organismus erschüttern und den nächsten Tag schwieriger als die meisten anderen machen würde. Als ich dann aber um halb zehn die Augen aufschlug, fühlte ich mich nicht schlechter als sonst morgens beim Aufwachen. Vielleicht bringt nicht Ruhe die Heilung, dachte ich, sondern Arbeit. Vielleicht ist Schreiben die Medizin, die mich vollständig wieder herstellt.
Nach Graces Brechattacke am Sonntag hatte ich angenommen, sie werde sich den Montag frei nehmen, doch als ich mich auf die linke Seite drehte, um zu sehen, ob sie noch schlief, war sie nicht mehr da. Ich suchte sie im Bad, aber dort war sie auch nicht. In der Küche fand ich einen Zettel auf dem Tisch.
Es geht mir schon viel besser,
stand da,
also gehe ich zur Arbeit. Danke, dass du gestern Abend so lieb zu mir warst. Du bist der Allergrößte, Sid, ein echter Vertreter des Blauen Teams.
Unter ihren Namen hatte sie noch ein PS gesetzt:
Fast hätte ich’s vergessen. Wir haben kein Klebeband mehr, und ich möchte heute Abend das Geburtstagsgeschenk für meinen Vater einpacken, damit er es noch rechtzeitig bekommt. Könntest du mir von deinem Spaziergang eine Rolle mitbringen?
Natürlich war das nur eine Kleinigkeit, aber diese Bitte schien für alles zu stehen, was mir Grace so wertvoll machte. Sie arbeitete als Graphikdesignerin für einen großen New Yorker Verlag, und wenn ihre Abteilung an irgendetwas keinen Mangel hatte, dann war es Klebeband.Nahezu alle Angestellten in Amerika stehlen Gegenstände aus ihren Büros. Scharen von Lohnempfängern stecken regelmäßig Kugelschreiber, Bleistifte, Briefumschläge, Büroklammern und Gummiringe in die eigene Tasche, und die wenigsten von ihnen haben bei solchen Kleindiebstählen auch nur die Spur eines schlechten Gewissens. Grace aber gehörte nicht zu diesen Leuten. Und das hatte nichts damit zu tun, dass sie Angst hatte, erwischt zu werden: es war ihr schlichtweg nie in den Sinn gekommen, etwas zu nehmen, was ihr nicht gehörte. Nicht aus Achtung vor dem Gesetz, nicht aus selbstgefälliger Rechtschaffenheit, nicht weil sie aufgrund ihrer religiösen Erziehung noch immer vor den Zehn Geboten zitterte, sondern weil Diebstahl ihrem Selbstgefühl vollkommen fremd war, ein Verrat an allem, was sie instinktiv aus ihrem Leben machen wollte. Sie hätte den Gedanken vielleicht nicht gutgeheißen, aber Grace war ein permanentes, waschechtes Mitglied des Blauen Teams, und es rührte mich, dass sie das Thema auf ihrem Zettel für mich noch einmal angesprochen hatte. Sie sagte mir damit, dass ihr kleiner Ausbruch am Samstagabend im Taxi ihr Leid tue, das war ihre diskrete und für sie ganz und gar typische Art, um Verzeihung zu bitten. Mit einem Wort: Gracie.
Ich schluckte die vier Pillen, die ich jeden Morgen zum Frühstück nehmen sollte, trank etwas Kaffee, aß ein paar Scheiben Toast, ging dann ans Ende des Flurs und öffnete die Tür zu meinem Arbeitszimmer. Ich hatte vor, bis Mittag an der Geschichte weiterzuschreiben. Dann wollte ich noch einmal in Changs Laden vorbeisehen – um dort nicht nur das Klebeband für Grace zu kaufen, sondern auch alle noch vorrätigen portugiesischen Notizbücher.Dass die nicht blau waren, störte mich nicht. Schwarz, Rot und Braun würden ihren Zweck ebenso gut erfüllen, ich wollte nur so viele davon wie möglich. Vielleicht nicht für die Gegenwart, sondern als Vorrat für künftige Projekte, und je länger ich den nächsten Besuch in Changs Laden aufschob, desto größer war das Risiko, dass sie nicht mehr da waren.
Bis dahin hatte ich beim Arbeiten mit dem blauen
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