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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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durch eine der rautenförmigen Öffnungen spähte, sah ich einen kleinen handgeschriebenen Zettel am Fenster kleben: LADEN ZU VERMIETEN. 858   -   1143.
    Ich war so perplex, ich stand nur da und starrte in den leeren Raum. War das Geschäft so schlecht gelaufen, dass Chang sich spontan zur Aufgabe entschlossen hatte? Hatteer den Laden in einem Anfall von Niedergeschlagenheit ausgeräumt und das gesamte Inventar im Lauf eines einzigen Wochenendes abtransportiert? Das schien kaum möglich. Einen Augenblick lang fragte ich mich, ob ich mir den Besuch im Paper Palace am vergangenen Samstag womöglich bloß eingebildet hatte, oder ob mir die zeitliche Reihenfolge durcheinander geraten war und ich mich an etwas erinnerte, was tatsächlich schon viel früher geschehen war – nicht vor zwei Tagen, sondern vor zwei Wochen oder zwei Monaten. Ich ging in die Bodega und sprach mit dem Mann hinterm Tresen. Zum Glück war er genauso ratlos wie ich. Am Samstag sei Changs Laden noch da gewesen, sagte er, auch noch um sieben Uhr, als er nach Hause gegangen sei. «Das muss in der darauf folgenden Nacht passiert sein», fuhr er fort, «oder auch gestern. Ich hatte am Sonntag frei. Fragen Sie Ramón – der arbeitet hier sonntags. Als ich heute früh hier ankam, war der Laden leer geräumt. Seltsame Geschichte, mein Freund, ganz seltsam. Als ob da irgendein Zauberer seinen Zauberstab schwenkt, und puff! ist der Chinese verschwunden.»
    Ich kaufte das Klebeband anderswo und ging dann zu Landolfi’s, um mir ein Päckchen Zigaretten (Pall Mall, zu Ehren des verstorbenen Ed Victory) und ein paar Zeitungen zu kaufen, die ich beim Mittagessen lesen wollte. Einen halben Block von diesem Geschäft entfernt lag Rita’s, ein kleiner, lärmerfüllter Coffeeshop, in dem ich mir im Sommer oft die Zeit vertrieben hatte. Ich war seit fast einem Monat nicht mehr dort gewesen und freute mich, dass die Kellnerin und der Barkeeper mich beide freundlich begrüßten, als ich eintrat. Angeschlagen, wie ich mich an diesem Tag fühlte, war es schön zu wissen, dass manmich nicht vergessen hatte. Ich bestellte mein übliches gegrilltes Käsesandwich und machte es mir mit den Zeitungen bequem. Zuerst las ich die
Times
, dann den Sportteil der
Daily News
(die Mets hatten am Sonntag beide Partien eines Doppelspieltags gegen die Cardinals verloren), und schließlich warf ich einen Blick in
Newsday.
Ich war ja längst ein alter Hase im Zeittotschlagen, und da ich mit der Arbeit in eine Sackgasse geraten war und zu Hause keine drängenden Geschäfte warteten, hatte ich es nicht eilig, von dort fortzukommen, zumal es jetzt zu regnen angefangen hatte und ich vorhin zu faul gewesen war, noch einmal nach oben zu gehen und den Schirm zu holen.
    Wenn ich nicht so lange in dem Coffeeshop gesessen, ein zweites Sandwich und einen dritten Kaffee bestellt hätte, wäre mir der
Newsday
-Artikel ganz unten auf Seite siebenunddreißig niemals aufgefallen. In der Nacht zuvor hatte ich mehrere Absätze über Ed Victorys Erlebnisse in Dachau geschrieben. Ed war zwar nur eine Romanfigur, aber die Geschichte mit der Milch und dem toten Baby hatte sich tatsächlich so abgespielt. Sie stammte aus einem Buch über den Zweiten Weltkrieg 8 , das ich frühereinmal gelesen hatte. Eds Worte («Das war das Ende der Menschheit») gingen mir noch durch den Kopf, als ich auf die folgende, schlecht geschriebene Notiz über ein anderes totes Baby stieß, einen weiteren Bericht aus den Eingeweiden der Hölle. Ich kann den Artikel wörtlich zitieren, weil ich ihn vor mir liegen habe. Ich habe ihn an jenem Nachmittag vor zwanzig Jahren aus der Zeitung gerissen und seitdem ununterbrochen in meiner Brieftasche mit mir herumgetragen.
    8
    The Lid Lifts
von Patrick Gordon-Walker (London 1945). In jüngerer Zeit hat Douglas Botting diese Geschichte noch einmal nacherzählt, in:
From the Ruins of the Reich: Germany 1945   –   49
(New York: Crown Publishers, 1985), S.   43.
    Der Ordnung halber sollte ich auch erwähnen, dass ich ein Exemplar des Warschauer Telefonbuchs von 1937/​38 besitze. Ich habe es von einem befreundeten Journalisten bekommen, der 1981 aus Polen über die Solidarnosc-Bewegung berichtete. Offenbar hatte er es irgendwo auf einem Flohmarkt entdeckt, und da er wusste, dass meine Großeltern väterlicherseits beide aus Warschau stammten, hatte er es mir nach seiner Rückkehr nach New York geschenkt. Ich nannte es mein
Buch der Geister.
Auf Seite 220 unten fand ich ein Ehepaar,

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