Nacht des Orakels
hatte. Es ging gar nicht um das Baby – es ging um mich selbst. Seit ich Grace kannte, hatte ich immer mit der furchtbaren Angst gelebt, ich könnte sie verlieren. Vor unserer Hochzeit hatte ich sie bereits einmal verloren, und seit meiner Erkrankung, seit ich praktisch zum Invaliden geworden war, war ich nach und nach einem Zustand verhängnisvoller Hoffnungslosigkeiterlegen, der heimlichen Überzeugung nämlich, dass sie ohne mich viel besser dran wäre. Ein gemeinsames Kind hätte mir diese Sorge genommen und sie daran gehindert, mich zu verlassen. Umgekehrt wiesen ihre Einwände gegen das Kind darauf hin, dass sie von mir weg wollte, dass sie mir bereits entglitt. Das erklärt wohl, warum ich an diesem Abend so aufgewühlt war, warum ich mich verteidigte wie ein rücksichtloser Winkeladvokat und dabei sogar so weit ging, diesen entsetzlichen Zeitungsartikel aus meiner Brieftasche zu ziehen und darauf zu bestehen, dass sie ihn las. IN EINER TOILETTE GEBOREN, BABY WEGGEWORFEN. Als sie ans Ende des Artikels kam, sah Grace mich mit Tränen in den Augen an und sagte: «Das ist nicht fair, Sidney. Was hat dieser … dieser Albtraum mit uns zu tun? Du erzählst mir von toten Babys in Dachau, von Paaren, die keine Kinder bekommen können, und jetzt zeigst du mir das hier. Was hast du eigentlich? Ich versuche doch nur mit allem, was ich habe, unser Leben zusammenzuhalten. Verstehst du das denn nicht?»
Am nächsten Morgen wachte ich früh auf, machte Frühstück für uns beide, und um sieben Uhr, eine Minute bevor der Wecker losgehen sollte, trug ich das Tablett ins Schlafzimmer. Ich stellte es auf der Kommode ab, schaltete den Wecker aus und setzte mich neben Grace aufs Bett. Als sie die Augen aufschlug, schlang ich die Arme um sie und küsste sie, ihre Wange, ihren Hals, ihre Schulter, drückte meinen Kopf an sie und bat um Verzeihungfür die idiotischen Dinge, die ich am Abend zuvor gesagt hatte. Ich sagte, es stehe ihr frei, zu tun, was sie wolle, es sei ihre Entscheidung, und wie auch immer sie sich entscheide, ich würde zu ihr stehen. Die schöne Grace, die morgens nie verquollen oder verschlafen aussah, die stets so frisch wie ein Soldat im Ausbildungslager oder ein kleines Kind aus dem Schlaf erwachte und binnen Sekunden aus tiefster Versunkenheit zu voller Wachsamkeit aufstieg, nahm mich wortlos in die Arme und gab mir mit leisem Gurren zu verstehen, dass sie mir verziehen hatte, dass unsere Meinungsverschiedenheit bereits überwunden war.
Sie blieb im Bett, und ich servierte ihr das Frühstück. Zuerst den Orangensaft, dann eine Tasse Kaffee mit etwas Milch, gefolgt von zwei Zweieinhalb-Minuten-Eiern und einer Scheibe Toast. Sie hatte guten Appetit, nichts wies auf morgendliche Übelkeit hin, und während ich selbst einen Kaffee trank und ein Stück Toast aß, ging mir durch den Kopf, dass sie noch nie so phantastisch ausgesehen hatte wie in diesem Augenblick. Meine Frau ist ein Lichtwesen, dachte ich bei mir, und mich soll der Blitz erschlagen, wenn ich jemals vergesse, was für ein Glückspilz ich bin, dass ich jetzt neben ihr sitzen darf.
«Ich hatte einen ganz seltsamen Traum», sagte Grace. «Einen von diesen endlosen, verrückten, wirren Träumen, in denen dauernd eins ins andere übergeht. Aber ganz deutlich – wirklicher als wirklich, falls dir das was sagt.»
«Erinnerst du dich an Einzelheiten?»
«Ja, ich glaube schon, aber es fängt schon an zu verblassen. Wie es losging, weiß ich nicht mehr, aber irgendwiewaren wir beide mit meinen Eltern zusammen. Wir haben eine neue Bleibe gesucht.»
«Eine größere Wohnung, nehme ich an.»
«Nein, keine Wohnung. Ein Haus. Wir sind in irgendeiner Stadt herumgefahren. Nicht New York oder Charlottesville, irgendwas anderes, wo ich noch nie gewesen war. Und mein Vater sagte, wir sollten uns ein Haus in der Bluebird Avenue ansehen. Was meinst du, wo ich das herhabe? Bluebird Avenue.»
«Keine Ahnung. Ist aber ein hübscher Name.»
«Genau das hast du in dem Traum auch gesagt. Dass das ein hübscher Name ist.»
«Bist du sicher, dass der Traum vorbei ist? Vielleicht schlafen wir noch, und wir haben den Traum zusammen.»
«Sei nicht albern. Wir fuhren im Auto meiner Eltern. Du hast neben mir hinten gesessen und zu meiner Mutter gesagt: ‹Das ist ein hübscher Name.›»
«Und dann?»
«Wir sind vor einem alten Haus vorgefahren. Ein Riesenkasten – eine Villa –, und dann sind wir vier reingegangen und haben uns umgesehen. Die Zimmer waren
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