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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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geht das doch immer. Solange man träumt, gibt es immer einen Ausweg.»

 
    Als Grace nach Manhattan gefahren war, setzte ich mich an die Schreibmaschine und arbeitete an dem Filmtreatment für Bobby Hunter. Ich versuchte die Zusammenfassung auf vier Seiten zu beschränken, kam aber schließlich auf sechs. Gewisse Punkte mussten gründlicher behandelt werden, erkannte ich, und ich wollte auch keine Lücken in der Story. Zum einen: Wenn auf der Initiationsreise so viele Gefahren drohten und das Risiko einer so harten Strafe bestand – warum sollte dann überhaupt irgendjemand das Wagnis einer Reise in die Vergangenheit auf sich nehmen? Es musste, beschloss ich, jedem freigestellt sein, ob er die Reise antrat oder nicht, man machte sie aus freien Stücken, nicht unter Zwang. Zum anderen:Wie können die Menschen im zweiundzwanzigsten Jahrhundert erfahren, dass ein Reisender gegen die Regeln verstoßen hat? Ich erfand eine Sonderabteilung der Polizei, die sich darum kümmern musste. Zeitreiseagenten brüten in Bibliotheken über Büchern, Zeitschriften und Zeitungen, und wenn ein junger Reisender in die Handlungen eines Menschen in der Vergangenheit eingreift, verändern sich die Wörter in den Büchern. Zum Beispiel würde der Name Lee Harvey Oswald plötzlich aus allen Texten über die Ermordung Kennedys verschwinden. Als ich mir diese Szene ausmalte, ging mir auf, dass solche Veränderungen sich visuell sehr eindrucksvoll in Szene setzen ließen: Scharen von Wörtern, die auf bedruckten Seiten herumkrabbeln und sich neu zusammenstellen, die sich hin und her bewegen wie kleine durchgedrehte Insekten.
    Ich tippte das Treatment sauber ab, las es noch einmal durch und korrigierte ein paar Tippfehler, dann ging ich durch den Flur in die Küche und rief die Agentur Sklarr an. Mary hatte gerade ein anderes Gespräch auf der Leitung, aber ich sagte ihrer Mitarbeiterin, in ein, zwei Stunden käme ich selbst im Büro vorbei, um das Manuskript abzugeben. «Das ging ja schnell», sagte sie.
    «Ja, sieht so aus», antwortete ich, «aber Sie wissen ja, wie das ist, Angela. Wenn man durch die Zeit reist, hat man keine Sekunde zu verlieren.»
    Angela lachte über meinen lahmen Scherz. «Gut», sagte sie, «ich sage Mary Bescheid, dass Sie unterwegs sind. Aber so eilig ist es eigentlich gar nicht. Sie könnten es auch mit der Post schicken und sich die Fahrt sparen.»
    «Ich trau der Post nicht, Ma’am», sagte ich und näselte plötzlich wie ein Cowboy aus Oklahoma. «Hab ich nie, werd ich nie.»
    Nachdem wir aufgelegt hatten, nahm ich den Hörer noch einmal von der Gabel und wählte Trauses Nummer. Marys Büro war in der Fifth Avenue zwischen der 12th und 13th Street, und da John ganz in der Nähe wohnte, kam ich auf die Idee, dass wir gemeinsam essen gehen könnten, vielleicht hatte er ja Lust. Außerdem wollte ich wissen, wie es seinem Bein ging. Wir hatten uns seit Samstagabend nicht mehr gesprochen, und jetzt war es Zeit, mich nach seinem Befinden zu erkundigen.
    «Nichts Neues», sagte er. «Nicht schlechter, aber auch nicht besser. Der Arzt hat mir entzündungshemmende Pillen verschrieben, und als ich gestern die erste geschluckt habe, gab’s eine schlimme Reaktion. Erbrechen, Schwindelgefühl, alles. Ich fühle mich immer noch ziemlich geschlaucht.»
    «Ich fahre gleich nach Manhattan, um mich mit Mary Sklarr zu treffen, und ich dachte, anschließend könnte ich bei dir vorbeikommen. Vielleicht könnten wir essen gehen oder so, aber daraus wird dann heute wohl nichts.»
    «Komm doch morgen. Bis dahin geht’s mir wieder gut. Oder wenigstens verdammt viel besser.»
    Um halb zwölf verließ ich die Wohnung und ging zur Bergen Street, wo ich den F-Train nach Manhattan nahm. Unterwegs gab es einige unerklärliche Pannen – eine längere Fahrtunterbrechung in einem Tunnel; einen Stromausfall im Waggon, der sich über vier Haltestellen hinzog; eine ungewöhnlich langsame Überfahrt von der Station York Street auf die andere Seite des Flusses   –, und als ich endlich in Marys Büro ankam, war sie schon zum Lunch gegangen. Ich übergab das Treatment Angela, ihrer pummeligen, kettenrauchenden Mitarbeiterin, die Telefonate entgegennahm und Päckchen versandte, und die, als ichwieder ging, zu meiner Überraschung von ihrem Schreibtisch aufstand und mich nach italienischer Art auf beide Wangen küsste. «Zu schade, dass Sie verheiratet sind», flüsterte sie. «Wir beide hätten wunderbar miteinander Musik machen können,

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