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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Sid.»
    Angela schäkerte gern so herum, und nach drei Jahren fleißigen Übens hatten wir eine ziemlich perfekte Nummer ausgearbeitet. Meine Rolle verlangte nun, ihr die Antwort zu geben, die sie erwartete. «Nichts ist ewig», sagte ich. «Harren Sie nur aus, Engelsgleiche, früher oder später werde ich frei sein.»
    Ich hatte keinen Grund, direkt nach Brooklyn zurückzukehren, und konnte meinen Mittagsspaziergang ebenso gut im Village machen, den Ausflug irgendwo mit einem Imbiss beschließen und erst dann mit der Subway nach Hause fahren. Ich wandte mich von der Fifth Avenue nach Westen, schlenderte die 12th Street mit ihren schönen Brownstonehäusern und den kleinen, sorgfältig gepflegten Bäumen entlang, und als ich an der New School vorbei war und mich der Sixth Avenue näherte, war ich bereits in Gedanken versunken. Bowen war immer noch in dem Kellerraum eingesperrt, und jetzt, da mir Graces beunruhigender Traum im Kopf herumspukte, kamen mir einige neue Ideen zum Fortgang der Erzählung. Von da an bekam ich kaum noch mit, wo ich war, und in den nächsten dreißig, vierzig Minuten nahm ich von meiner Umgebung so gut wie nichts mehr wahr und wanderte, mehr in diesem unterirdischen Raum in Kansas City als in Manhattan, wie ein Blinder durch die Straßen. Erst als ich mich auf der Hudson Street wiederfand, auf Höhe der Fensterfront der White Horse Tavern, hielten meine Füße endlich an. Ich war auf einmal sehr hungrig, stellte ichfest, und als mir das ins Bewusstsein gestiegen war, verlagerte sich der Schwerpunkt meiner Aufmerksamkeit vom Kopf in den Magen. Nun konnte ich mich hinsetzen und eine Mahlzeit zu mir nehmen. 10
    10
    Ich war nicht wirklich vorangekommen, wusste jetzt aber, dass ich Bowens Lage ein wenig verbessern konnte, ohne die Hauptstoßrichtung der Erzählung zu ändern. Die Deckenlampe ist durchgebrannt, aber es schien mir nicht notwendig, Nick in absoluter Finsternis zu lassen. In Eds gut ausgestattetem Strahlenschutzkeller konnte es auch noch andere Lichtquellen geben. Streichhölzer und Kerzen, zum Beispiel, eine Taschenlampe, eine Tischlampe – irgendetwas, was in Nick nicht das Gefühl aufkommen ließ, lebendig begraben zu sein. Das würde jeden Mann um den Verstand bringen, und ich wollte aus Bowens misslicher Lage auf gar keinen Fall eine Studie zum Thema Angst und Wahnsinn machen. Ich hatte Hammett hinter mir gelassen, aber das bedeutete nicht, dass ich die Absicht hatte, die Flitcraft-Episode durch eine Neufassung von Poes
Das vorzeitige Begräbnis
zu ersetzen. Jedenfalls wollte ich Nick ein wenig Licht und damit einen Hoffnungsschimmer zugestehen. Und wenn die Streichhölzer und Kerzen und am Ende auch noch die Batterien in der Taschenlampe aufgebraucht sind, kann er immer noch die Kühlschranktür aufmachen und den Raum mit der kleinen Glühbirne beleuchten, die im Innern des weiß emaillierten Kastens brennt.
    Von größerem Gewicht war die Sache mit Graces Traum. Als ich ihr am Morgen zugehört hatte, war ich von den Parallelen zu meiner Erzählung so verblüfft, dass ich von den zahlreichen Unterschieden gar nichts mitbekommen hatte. Ihr Zimmer war eine Zuflucht zweier Menschen, ein kleines erotisches Paradies. Mein Zimmer war eine kahle Zelle, bewohnt von einem einzigen Mann, der nur den Wunsch hat, dort hinauszukommen. Was aber, wenn es mir gelänge, Rosa Leightman zu ihm reinzubringen? Nick ist bereits in sie verliebt, und wenn die beiden für längere Zeit in dem Raum eingesperrt wären, würde sie seine Gefühle womöglich irgendwann erwidern. Rosa war das physische und geistige Double von Grace, also hatte sie auch dieselben sexuellen Gelüste wie Grace – dieselbe Härte, dieselbe Hemmungslosigkeit. Nick und Rosa konnten sich die Zeit vertreiben, indem sie einander Kapitel aus
Nacht des Orakels
vorlasen, sie konnten sich gegenseitig ihr Herz öffnen und miteinander ins Bett steigen. Solange sie genug zu essen hatten, gab es keinen Grund, den Raum verlassen zu wollen.
    Das war die kleine Phantasie, die ich mit mir herumtrug, als ich durch die Straßen des Village ging. Aber schon während ich die Sache im Kopf durchspielte, war mir klar, dass ich schwer auf dem Holzweg war. Grace hatte mich mit ihrem erotischen Traum erregt, aber so verführerisch er sein mochte, führte auch er nur in eine Sackgasse. Wenn Rosa in den Raum hineinkann, dann kann Nick auch heraus, und er würde nicht zögern, die Gelegenheit, wenn sie sich ihm bietet, zur Flucht zu nutzen. Es geht aber

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