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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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schließlich.
    «Ich weiß nicht, wie ich mich fühle. Wir haben immer davon gesprochen, dass wir Kinder haben wollen, aber das scheint der ungünstigste Moment dafür zu sein.»
    «Nicht unbedingt. Wenn der Test positiv ausfällt, werden wir uns schon was ausdenken. Alle anderen tun das doch auch. Wir sind keine Dummköpfe, Grace. Uns fällt schon was ein.»
    «Die Wohnung ist zu klein, wir haben kein Geld, und ich würde drei oder vier Monate nicht arbeiten können. Wenn du wieder ganz auf dem Damm wärst, würde das alles keine Rolle spielen. Aber so weit bist du noch nicht.»
    «Immerhin habe ich dich schwanger gemacht, oder? Wer sagt, ich bin noch nicht so weit? In der Hinsicht ist bei mir jedenfalls alles in Ordnung.»
    Grace lächelte. «Du stimmst also mit Ja.»
    «Aber natürlich.»
    «Dann haben wir ein Ja und ein Nein. Wie kommen wir damit weiter?»
    «Das kann nicht dein Ernst sein.»
    «Wie meinst du das?»
    «Eine Abtreibung. Du willst es doch nicht etwa abtreiben lassen?»
    «Ich weiß nicht. Das ist eine schreckliche Vorstellung, aber vielleicht wäre es besser, fürs Erste keine Kinder zu kriegen.»
    «Verheiratete Leute bringen ihre Kinder nicht um. Nicht, wenn sie sich lieben.»
    «Das klingt ja schrecklich, wie du das sagst, Sidney. Ich will das nicht hören.»
    «Gestern Abend hast du gesagt: ‹Solange du mich liebst, läuft alles andere ganz von allein.› Und genau das versuche ich. Dich zu lieben und für dich zu sorgen.»
    «Hier geht es nicht um Liebe. Sondern darum, dass wir herausfinden müssen, was für uns beide das Beste ist.»
    «Du weißt es schon, stimmt’s?»
    «Was soll ich wissen?»
    «Dass du schwanger bist. Du glaubst nicht, dass du schwanger sein könntest. Du hast schon erfahren, dass du es bist. Wann hast du den Test machen lassen?»
    Zum ersten Mal, seit ich sie kannte, drehte Grace sich von mir weg, als sie sprach – unfähig, mich anzusehen, richtete sie ihre Worte an die Wand. Ich hatte sie bei einer Lüge ertappt, und die Demütigung war ihr nahezu unerträglich. «Am Samstagmorgen», sagte sie. Ihre Stimme war beinahe unhörbar, kaum lauter als ein Flüstern.
    «Warum hast du es mir nicht schon erzählt?»
    «Ich konnte nicht.»
    «Du konntest nicht?»
    «Ich war zu durcheinander. Ich wollte das nicht akzeptieren, und ich habe Zeit gebraucht, das zu verdauen. Entschuldige, Sid. Bitte, entschuldige.»
    Wir sprachen noch zwei Stunden lang weiter, und am Ende rang ich ihren Widerstand nieder, bearbeitete sie so lange, bis sie nachgab und mir versprach, das Kind zu behalten. Das war wohl der schlimmste Kampf, den wir beide jemals ausgefochten hatten. Vom praktischen Gesichtspunkt aus hatte sie in jeder Beziehung Recht, die Schwangerschaft kritisch zu sehen, aber gerade die Rationalität ihrer Zweifel schien eine morbide, irrationale Angst in mir auszulösen, und die wütend emotionalen Argumente, mit denen ich sie attackierte, ergaben kaum einen Sinn. Als wir auf den finanziellen Aspekt der Angelegenheit zu sprechen kamen, erwähnte ich das Drehbuchund die Erzählung, die ich im blauen Notizbuch skizziert hatte, unterließ es jedoch, darauf hinzuweisen, dass es sich bei Ersterem bloß um eine unverbindliche Anfrage, um eine äußerst vage Aussicht auf einen möglichen Auftrag handelte, und dass ich mit Letzterer bereits in eine Sackgasse geraten war. Falls aus den beiden Projekten nichts werde, sagte ich, wolle ich mich bei allen amerikanischen Unis als Dozent für Schreibkurse bewerben, und wenn dabei nichts herauskäme, wolle ich wieder Geschichte an der Highschool unterrichten; dabei wusste ich ganz genau, dass ich körperlich noch lange nicht in der Lage war, einer regelmäßigen Arbeit nachzugehen. Mit anderen Worten: ich log sie an. Ich hatte nur das eine Ziel, ihr die Abtreibung auszureden, und dafür war mir jedes Mittel recht. Fragt sich nur, warum. Denn noch während ich ihr mit meinen endlosen Rechtfertigungen und rüder Rhetorik zusetzte und jedes ihrer ruhig vorgebrachten, vollkommen vernünftigen Argumente zertrümmerte, stellte ich mir die Frage, warum ich eigentlich so erbittert kämpfte. Im Grunde war ich mir nämlich überhaupt nicht sicher, ob ich wirklich schon Vater werden wollte, und natürlich machte Grace mit Recht geltend, dass es ein schlechter Zeitpunkt dafür war, dass wir nicht an Kinder denken sollten, solange ich nicht vollständig wieder hergestellt wäre. Erst Monate später begriff ich, was ich an diesem Abend wirklich im Sinn gehabt

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