Nacht des Orakels
seines Fahrzeugs steigt, erblickt er keine drei Meter neben sich eine weitere Zeitmaschine – ein schnittiges Gefährt aus dem zweiundzwanzigsten Jahrhundert. Jill klettert heraus, ein wenig benommen und zerzaust. Als sie Jack bemerkt, der sie vollkommen verblüfft anstarrt, greift sie in ihre Tasche und zieht die Liste mit den Namen hervor. Entschuldigen Sie, Sir, sagt sie, aber können Sie mir vielleicht sagen, wo ich einen Mann namens Lee Harvey Oswald finden kann?
Viel mehr Einzelheiten hatte ich nicht ausgearbeitet. Klar war, dass Jack und Jill sich verlieben würden (immerhin ging es um einen Hollywoodfilm) und dass Jack sie schließlich für seinen Plan gewinnen würde, Oswald an der Ermordung Kennedys zu hindern – selbst auf die Gefahr hin, dass sie in die Verbannung geschickt würde und nicht mehr in ihre Heimatzeit zurückkehren dürfte. Wenn Oswald am Morgen des zweiundzwanzigsten mit seinem Gewehr im Texas School Book Depository auftaucht, überfallen sie ihn aus dem Hinterhalt, fesseln ihn und halten ihn einige Stunden lang gefangen. Und doch ändert sich trotz all ihrer Anstrengungen nichts. Kennedy wird trotzdem erschossen, die Geschichte Amerikas bleibt haargenau die gleiche. Oswald, der selbst ernannte Sündenbock, hat die Wahrheit gesagt. Ob er auf den Präsidenten geschossen hätte oder nicht, spielt keine Rolle: erwar nicht der einzige Schütze, der an der Verschwörung beteiligt war.
Da Jill jetzt nicht mehr nach Hause zurückkehren darf, und da Jack sie liebt und den Gedanken, sie allein zurückzulassen, nicht ertragen kann, entscheidet er sich, mit ihr im Jahr 1963 zu bleiben. In der letzten Szene des Films zerstören sie ihre Zeitmaschinen und vergraben sie in der Wiese. Dann schreiten sie in den Sonnenaufgang des dreiundzwanzigsten November, zwei junge Leute, die ihrer Vergangenheit entsagt haben und sich einer gemeinsamen Zukunft stellen wollen.
Das war natürlich haarsträubender Blödsinn, Fantasy-Schund der primitivsten Art, schien mir aber als Film machbar, und das war alles, was ich wollte: etwas abliefern, was ins gewünschte Schema passte. Das war keine Prostitution, sondern eher ein Finanzierungsplan, und ich hatte keinerlei Skrupel, mich als Schreiber zu verdingen, wenn ich damit einen Haufen dringend benötigtes Geld verdienen konnte. Ich hatte einen unruhigen Tag hinter mir, zunächst meine fehlgeschlagenen Bemühungen, die angefangene Geschichte weiter voranzutreiben, dann die schockierende Entdeckung, dass Changs Laden nicht mehr existierte, und schließlich der entsetzliche Zeitungsartikel, den ich beim Mittagessen gelesen hatte. Immerhin hatte mir das Nachdenken über
Die Zeitmaschine
als schmerzlose Ablenkung gedient, und als Grace um halb neun zur Tür hereinkam, war ich relativ guter Dinge. Der Tisch war gedeckt, eine Flasche Weißwein standim Kühlschrank, das Omelett brauchte nur noch in die Pfanne gegossen zu werden. Sie schien ein wenig überrascht, dass ich auf sie gewartet hatte, äußerte sich aber nicht dazu. Sie wirkte erschöpft, hatte dunkle Ringe unter den Augen und bewegte sich mit einer gewissen Schwerfälligkeit. Nachdem ich ihr aus dem Mantel geholfen hatte, führte ich sie sofort in die Küche und ließ sie am Tisch Platz nehmen. «Iss», sagte ich. «Du musst großen Hunger haben.» Ich stellte etwas Brot und einen Teller mit Salat vor sie hin und ging dann zum Herd, um mit dem Omelett zu beginnen.
Sie lobte das Essen, ansonsten aber sprach sie während der Mahlzeit kaum ein Wort. Ich freute mich, dass ihr Appetit zurückgekehrt war, zugleich aber schien sie mir ganz woanders zu sein, nicht so gegenwärtig wie sonst. Als ich ihr von meinem Gang zu Changs Geschäft erzählte, wo ich das Klebeband für sie kaufen wollte, und dass der Laden rätselhafterweise zugemacht hatte, hörte sie kaum zu. Ich war versucht, ihr von dem Drehbuchangebot zu erzählen, aber es schien mir nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Vielleicht nach dem Essen, dachte ich, und gerade als ich aufstand und den Tisch abräumen wollte, sah sie mich plötzlich an und sagte: «Ich glaub, ich bin schwanger, Sid.»
Sie platzte so unerwartet mit dieser Neuigkeit heraus, dass mir nichts anderes einfiel, als mich wieder auf meinen Stuhl zu setzen.
«Meine letzte Periode ist jetzt fast sechs Wochen her. Du weißt, wie regelmäßig die bei mir kommt. Und dann gestern diese Kotzerei. Das kann doch nur eins bedeuten.»
«Du scheinst nicht sehr glücklich darüber zu sein», sagte ich
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