Nacht des Orakels
Finanziell unabhängig und am väterlichen Geschäft nicht interessiert, überlässt er die Verwaltung der Ranch seiner Mutter und seiner älteren Schwester und widmet sich wissenschaftlichen Forschungen und Experimenten. Nach zwei Jahren unermüdlicher Arbeit und vielen Fehlschlägen gelingt es ihm, eine Zeitmaschine zu bauen. Er bricht zu seiner ersten Reise auf. Nicht wie Wells’ Figur einige tausend Jahre in die Zukunft, sondern nur achtundsechzig: An einem kühlen Sonnentag Ende November 1963 klettert er aus seinem glitzernden Gefährt.
Jill lebt in der Mitte des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts.Zeitreisen sind inzwischen technisch machbar, werden aber nur selten unternommen und dürfen nur unter strengen Auflagen angetreten werden. Im Bewusstsein der Brisanz und potenzieller Risiken solcher Reisen erlaubt die Regierung jedem Menschen nur eine einzige in seinem ganzen Leben. Nicht als Vergnügungsreise in andere historische Epochen, sondern als Initiationsritus: danach gilt man als erwachsen. Das geschieht, wenn man zwanzig wird. Man wird mit einer Feier geehrt, und am Abend dieses Tages wird man in die Vergangenheit geschickt und darf nun ein Jahr lang um die Welt reisen und seine Vorfahren beobachten. Man beginnt zweihundert Jahre vor seiner Geburt, also vor rund sieben Generationen, und arbeitet sich dann langsam bis zur Gegenwart zurück. Zweck der Reise ist es, Demut und Mitgefühl und Toleranz für seine Mitmenschen zu erlernen. Die Hunderte von Ahnen, denen man auf der Reise begegnet, führen einem das gesamte Spektrum menschlicher Möglichkeiten vor Augen, jede Losnummer in der genetischen Lotterie wird gezogen. Der Reisende erkennt, dass er aus einem unermesslichen Schmelztiegel von Widersprüchen herstammt und dass zu seinen Vorfahren Bettler und Narren, Heilige und Helden, Krüppel und Schönheiten, sanfte Seelen und Gewaltverbrecher, Altruisten und Diebe zählen. Wer in einer so kurzen Zeitspanne mit so vielen Leben konfrontiert wird, gewinnt ein neues Bild von sich selbst und seinem Platz in der Welt. Man begreift sich einerseits als Teil von etwas, das größer ist als man selbst, andererseits als klar abgegrenztes Individuum, als ein noch nie da gewesenes Lebewesen mit einer eigenen, unersetzlichen Zukunft. Man sieht letztlich ein, dass man ganz allein die Verantwortung für das trägt, was man aus sich macht.
Für die gesamte Reise sind gewisse Regeln festgesetzt. Man darf niemandem seine wahre Identität offenbaren; man darf sich in nichts einmischen; man darf niemandem erlauben, die Zeitmaschine zu betreten. Ein Verstoß gegen irgendeine dieser Regeln wird mit lebenslänglicher Verbannung aus der eigenen Zeit geahndet.
Jills Geschichte beginnt am Morgen ihres zwanzigsten Geburtstags. Nach der Party nimmt sie Abschied von Eltern und Freunden und schnallt sich in der ihr von der Regierung zur Verfügung gestellten Zeitmaschine an. Sie hat eine lange Liste mit Namen im Gepäck, ein Dossier über die Vorfahren, denen sie auf ihrer Reise begegnen wird. Die Skala am Steuerpult ist auf den 20. November 1963 eingestellt, exakt zweihundert Jahre vor ihrer Geburt. Sie sieht ein letztes Mal die Papiere durch, steckt sie in die Tasche und lässt den Motor an. Freunde und Familie winken tränenreich Lebewohl, und zehn Minuten später löst die Maschine sich in Luft auf. Jill hat ihre Reise angetreten.
Jacks Maschine ist auf einer Wiese in der Umgebung von Dallas gelandet. Es ist der 27. November, fünf Tage nach der Ermordung Kennedys, und Oswald ist bereits tot, erschossen von Jack Ruby in einem Kellergang des Rathauses. Jack ist erst seit sechs Stunden da, hat aber schon so viele Zeitungen gelesen und so viele Radio- und Fernsehensendungen gehört, dass er weiß, er ist mitten in eine nationale Tragödie hineingeplatzt. Er selbst ist Zeitzeuge der Ermordung eines Präsidenten gewesen (Garfield, 1881) und hat schmerzliche Erinnerungen an den Schock und das Chaos im Gefolge dieses Ereignisses. Zwei Tage lang denkt er über sein Dilemma nach, er fragt sich, ob er das moralische Recht hat, geschichtliche Tatsachenzu verändern, und kommt am Ende zu dem Schluss, ja, er hat das Recht dazu. Er will zum Wohle seines Landes in Aktion treten; er will alles tun, was in seiner Macht steht, um Kennedys Leben zu retten. Er kehrt zu seiner Zeitmaschine auf der Wiese zurück, stellt den Zeiger des Chronometers auf den 20. November und reist neun Tage in die Vergangenheit zurück. Als er aus dem Cockpit
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