Nacht des Orakels
aber diese Wut war auch mit einer ordentlichen Portion Schuldgefühlen untermischt. John wusste, er hatte seine Pflichten als Vater mehr oder weniger über Bord geworfen. Von Eleanor geschieden, als Jacob anderthalb Jahre alt war, hatte er zugelassen, dass sie das Kind aus New York mitnahm, als sie 1966 mit ihrem zweiten Mann nach East Hampton zog. Danach hatte John den Jungen nur noch selten gesehen: gelegentlich ein gemeinsames Wochenende in der Stadt, in den Sommerferien ein paar Ausflüge nach New England und in den Südwesten. Kaum das, was man eine aktive Vaterrolle nennen könnte, und dann, nach Tinas Tod, verschwand er für vier Jahre praktisch ganz aus Jacobs Leben und sah ihn zwischen seinem zwölften und sechzehnten Lebensjahr nur ein- oder zweimal. Jetzt, mit zwanzig, war sein Sohn vollkommen aus der Bahn geraten, und ob John dafür verantwortlich war oder nicht, er gab sich die Schuld an dieser Katastrophe.
Er blieb zehn, fünfzehn Minuten lang weg. Als er zurückkam, half ich ihm wieder aufs Sofa, und das Erste, was er dann sagte, hatte nichts zu tun mit dem, worüber wir zuvor gesprochen hatten. Der Konflikt schien beigelegt – abgetan auf seinem Gang durch den Flur und anscheinend vergessen.
«Was macht Flitcraft?», fragte er. «Irgendwelche Fortschritte?»
«Ja und nein», sagte ich. «Ein paar Tage lang habe ich geschrieben wie ein Wilder, und dann bin ich stecken geblieben.»
«Und jetzt hast du so deine Zweifel wegen des blauen Notizbuchs.»
«Möglich. Ich bin mir nicht sicher, ob ich noch weiß, was ich denke.»
«Du warst neulich so aufgedreht, hast dich angehört wie ein wahnsinniger Alchimist. Als sei es dir gelungen, Blei zu Gold zu machen.»
«Na ja, das war schon ziemlich erstaunlich. Grace sagt, als ich das erste Mal mit dem Notizbuch gearbeitet habe, sei ich nicht mehr da gewesen.»
«Wie meinst du das?»
«Dass ich verschwunden war. Ich weiß, das klingt absurd, aber als ich am Schreibtisch saß, hat sie angeklopft, und als sie nichts von mir hörte, hat sie kurz mal hineingeschaut. Sie schwört, dass sie mich nicht gesehen hat.»
«Dann musst du irgendwo anders in der Wohnung gewesen sein. Vielleicht im Bad.»
«Ich weiß. Das sagt Grace auch. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass ich ins Bad gegangen bin. Ich erinnere mich nur daran, dass ich am Schreibtisch gesessen und geschrieben habe.»
«Mag sein, dass du dich nicht erinnerst, aber das bedeutet nicht, dass es nicht so war. Wenn man ins Schreiben vertieft ist, ist man schon mal etwas geistesabwesend. Stimmt doch?»
«Sicher. Natürlich stimmt das. Aber am Montag ist so was Ähnliches noch einmal passiert. Ich habe in meinem Zimmer am Schreibtisch gesessen, und ich habe das Telefon nicht läuten hören. Als ich dann einmal in die Küche ging, waren zwei Nachrichten auf dem Anrufbeantworter.»
«Und?»
«Ich habe kein Klingeln gehört. Und ich höre immer, wenn das Telefon klingelt.»
«Du warst zerstreut, ins Schreiben vertieft.»
«Mag sein. Aber das glaube ich nicht. Da ist etwas Seltsames passiert, und ich kapiere das nicht.»
«Ruf deinen Arzt an, Sid, mach einen Termin und lass deinen Kopf untersuchen.»
«Ich weiß, das spielt sich alles in meinem Kopf ab. Ich behaupte nicht, dass es nicht so ist, aber seit ich dieses Notizbuch gekauft habe, ist alles durcheinander geraten. Ich kann nicht sagen, ob ich es bin, der das Notizbuch benutzt, oder ob das Notizbuch mich benutzt. Klingt das irgendwie nachvollziehbar?»
«Ein bisschen. Aber nicht besonders.»
«Na schön, lass es mich anders versuchen. Hast du schon mal von Sylvia Maxwell gehört? Eine amerikanische Schriftstellerin aus den zwanziger Jahren.»
«Ich kenne ein paar Bücher von Sylvia Monroe. Hat in den zwanziger und dreißiger Jahren einen Haufen Romane veröffentlicht. Aber Maxwell? Nein.»
«Gibt es von der ein Buch mit dem Titel
Nacht des Orakels
?»
«Nein, nicht dass ich wüsste. Aber ich glaube, es gibt was von ihr mit
Nacht
im Titel.
Nacht in Havanna
vielleicht. Oder
Nacht in London,
ich weiß nicht mehr. Dürfte nicht schwer zu ermitteln sein. Am besten gehst du in die Bücherei und siehst nach.»
Allmählich kamen wir von dem blauen Notizbuch ab und begannen von eher praktischen Dingen zu reden. Zum Beispiel sprachen wir über Geld und über meine Hoffnung, meine finanziellen Probleme mit diesem Drehbuch für Bobby Hunter beheben zu können. Ich erzählte John von dem Treatment und gab ihm einen kurzen Überblick über die
Weitere Kostenlose Bücher