Nacht des Orakels
erzählt die Geschichte?»
«Ein Mann, der den Gerüchten nachgehen soll. Er arbeitet für ein Amt der Regierung, das von dem Komplott nichts weiß, und am Ende wird er verhaftet und wegen Verrats vor Gericht gestellt. Die Angelegenheit wird noch dadurch kompliziert, dass der leitende Offizier der falschen Armee mit der Frau des Erzählers, seines besten Freundes, durchgebrannt ist.»
«Betrug und Schlechtigkeit, wohin das Auge blickt.»
«Du sagst es. Ein Mann, der von seiner Unschuld kaputtgemacht wird.»
«Und der Titel?»
«
Das Reich der Knochen.
Es ist nicht sehr lang. Fünfundvierzig, fünfzig Seiten – aber auf jeden Fall genug, um einen Film draus zu machen, möchte ich meinen. Du entscheidest. Wenn du es verwenden willst: meinen Segen hast du. Wenn es dir nicht gefällt, schmeiß es in den Müll, und wir vergessen die Sache.»
Als ich ging, war ich überwältigt, sprachlos vor Dankbarkeit, und nicht einmal die kleine Unannehmlichkeit, mich unten von Régine verabschieden zu müssen, konnte mein Glück schmälern. Das Manuskript steckte in einem braunen Umschlag in einer Seitentasche meiner Sportjacke, und als ich zur Subway ging, hatte ich ständig die Hand darauf, am liebsten hätte ich gleich angefangen, es zu lesen. John hatte mich und meine Arbeit immer unterstützt, aber diesmal war mir bewusst, dass sein Geschenk mindestens ebenso viel mit Grace zu tun hatte wie mit mir. Ich war der schwächliche Krüppel, der die Verantwortung für ihr Wohlergehen trug, und wenn er irgendetwas dazu beitragen konnte, uns wieder auf die Beine zu helfen, war er bereit, es zu tun – selbst wenn es bedeutete, mir ein unveröffentlichtes Manuskript zur Verfügung zu stellen. Die Chance, dass sich aus seiner Idee etwas machen ließ, war äußerst klein, aber ob ich seine Geschichte nun zu einem Film verarbeiten konnte oder nicht, entscheidend war seine Bereitschaft, mehr als nur die üblichen Freundespflichten zu erfüllen und sich aktiv für uns zu engagieren. Uneigennützig, ohne irgendeinen Gedanken daran, selbst davon zu profitieren.
Es war nach siebzehn Uhr, als ich die Station West Fourth Street erreichte. Die Rush Hour war bereits in vollem Gang, und als ich, mich krampfhaft ans Geländer klammernd, um nicht zu stolpern, die zwei Absätze zum Bahnsteig F hinunterstieg, hatte ich keine Hoffnung, einen Sitzplatz zu bekommen. Die Bahn nach Brooklyn war garantiert brechend voll. Ich würde Johns Erzählung also im Stehen lesen müssen, und da das extrem schwierig wäre, machte ich mich darauf gefasst, notfalls um ein wenig zusätzlichen Raum zu kämpfen. Als die Türen des Zugs aufgingen, ließ ich jede Höflichkeit fahren und zwängte mich vor allen anderen Wartenden durchs Gewühl der aussteigenden Passagiere, aber das nützte mir auch nichts. Hinter mir drängte der Mob hinein. Ich wurde in die Mitte des Wagens geschoben, und als die Türen zugingen und der Zug abfuhr, stand ich zwischen so vielen Leuten eingeklemmt, dass mir die Arme an die Seiten gepresst waren und ich nicht einmal in die Tasche greifen konnte, um den Umschlag herauszunehmen. Ich konnte mich nur darauf konzentrieren, meine Mitpassagiere nicht allzu heftig anzurempeln, als wir schaukelnd und schlingernd durch den Tunnel fuhren. Einmal gelang es mir, eine Hand so weit frei zu machen, dass ich mit den Fingern einen Haltegriff zu fassen bekam, aber das war auch schon das Äußerste, was mir unter diesen Umständen an Bewegung möglich war. Nur wenige Leute stiegen an den nächsten Haltestellen aus, und für jeden von ihnen rückten zwei neue nach. Hunderte blieben auf den Bahnsteigen zurück und mussten auf den nächsten Zug warten, und ich hatte während der gesamten Fahrt nicht die geringste Chance, mir die Erzählung anzusehen. Als wir die Station Bergen Street erreichten, wollte ich meineHand wieder auf den Umschlag legen, wurde aber von hinten gestoßen, von links und rechts bedrängt, und als ich mich, um als Erster aussteigen zu können, an der Mittelstange vorbeizwängte, hielt der Zug plötzlich an, die Türen gingen auf, und ich wurde auf den Bahnsteig gestoßen, bevor ich kontrollieren konnte, ob der Umschlag noch da war. War er nicht. Die Flut der Aussteigenden trug mich zwei, drei Meter weiter, und als ich mich umdrehte und wieder einsteigen wollte, waren die Türen schon zu, und der Zug hatte sich wieder in Bewegung gesetzt. Ich schlug mit der Faust an ein vorbeigleitendes Fenster, aber der Schaffner nahm keine Notiz von mir.
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