Nacht des Orakels
studiert. John war mit mehreren Mitgliedern der dortigen Anglistischen Fakultät bekannt (einer von ihnen, Charles Rothstein, hatte eine ausführliche Monographie über seine Romane veröffentlicht), und nach Jacobs katastrophalem, beinahe gescheiterten Highschool-Abschluss hatte er einige Fäden gezogen, um dem Jungen dort Aufnahme zu verschaffen. Das erste Semester war halbwegs gut gelaufen, Jacob hatte alle Kurse bestanden, doch am Ende des zweiten Semesters hatten seine Noten sich so sehr verschlechtert, dass er nur noch unter Auflagen weiterstudieren durfte. Er musste, um nicht von der Uni verwiesen zu werden, einen B-Dur chschnitt erzielen, aber im Herbstsemester seines zweiten Studienjahrs schwänzteer mehr Stunden, als er besuchte, arbeitete wenig oder gar nicht und wurde zum nächsten Semester ohne viel Federlesens rausgeschmissen. Er ging zu seiner Mutter nach East Hampton, wo sie mit ihrem dritten Ehemann lebte (im selben Haus, in dem Jacob bei seinem verhassten Großvater aufgewachsen war, einem Kunsthändler namens Ralph Singleton), und fand einen Teilzeitjob in einer Bäckerei. Nebenher gründete er mit drei Freunden von der Highschool eine Rockband, die aber, da es ständig zu Spannungen und Streitigkeiten kam, nach sechs Monaten wieder auseinander ging. Er erzählte seinem Vater, mit dem College könne er nichts anfangen, er wolle nicht dorthin zurück, aber John brachte es fertig, ihn doch wieder dazu zu überreden, indem er ihm gewisse finanzielle Anreize in Aussicht stellte: ein reichliches Taschengeld, eine neue Gitarre, wenn er im ersten Semester gute Noten erzielte, einen V W-Bus , wenn er das Jahr mit Notendurchschnitt B abschloss. Der Junge ging darauf ein, und Ende August war er wieder in Buffalo und konnte den Studenten spielen – die Haare grün gefärbt, Sicherheitsnadeln im linken Ohr, in einen langen schwarzen Mantel gehüllt. Damals war Punk die große Mode, und Jacob hatte sich dem stetig wachsenden Club zähnefletschender Aussteiger angeschlossen. Er war hip, er lebte gefährlich, und er ließ sich von keinem was vormachen.
Jacob habe sich für das Semester eingeschrieben, erzählte John, aber eine Woche später sei er, ohne auch nur eine einzige Vorlesung besucht zu haben, im Sekretariat aufgetaucht und habe sich wieder abgemeldet. Die Studiengebühr sei ihm erstattet worden, und statt den Scheck an seinen Vater zu schicken (von dem er das Geld ja ursprünglich hatte), habe er ihn bei der nächsten Bankeingelöst, sich die dreitausend Dollar in die Tasche geschoben und sei nach New York gefahren. Nach den letzten Nachrichten lebe er irgendwo im East Village. Wenn die Gerüchte über ihn zuträfen, sei er schwer heroinsüchtig – und zwar seit vier Monaten.
«Von wem hast du das?», fragte ich. «Wie willst du wissen, ob das stimmt?»
«Gestern früh hat mich Eleanor angerufen. Sie hatte versucht, wegen irgendeiner Sache mit Jacob zu sprechen, und sein Mitbewohner ist ans Telefon gegangen. Ehemaliger Mitbewohner, sollte ich sagen. Er hat ihr erzählt, Jacob sei vor zwei Wochen von der Schule abgegangen.»
«Und das mit dem Heroin?»
«Davon hat er ihr auch erzählt. Er hat keinen Grund, über so etwas Lügen zu verbreiten. Eleanor zufolge hat er sich sehr besorgt angehört. Es ist ja nicht so, dass mich das überrascht, Sid. Ich hatte schon immer den Verdacht, dass er Drogen nimmt. Ich habe nur nicht gewusst, dass es so schlimm ist.»
«Und was willst du jetzt unternehmen?»
«Keine Ahnung. Du hast doch früher mit Jugendlichen gearbeitet. Was würdest du tun?»
«Da fragst du den Falschen. Alle meine Schüler waren arm. Schwarze Teenager aus verkommenen Wohngegenden und kaputten Familien. Viele von ihnen haben Drogen genommen, aber ihre Probleme haben nichts mit denen von Jacob zu tun.»
«Eleanor meint, wir sollten nach ihm suchen. Aber ich kann mich nicht bewegen. Das Bein fesselt mich ans Sofa.»
«Wenn du willst, mach ich es. Ich hab zur Zeit nicht allzu viel zu tun.»
«Nein, nein, ich will dich da nicht reinziehen. Das ist nicht dein Problem. Eleanor und ihr Mann werden sich darum kümmern. Jedenfalls hat sie das gesagt. Bei ihr weiß man nie, ob sie etwas ernst meint oder nicht.»
«Was ist denn ihr neuer Mann für einer?»
«Keine Ahnung. Habe ihn nie gesehen. Das ist schon verrückt, ich kann mich nicht mal an seinen Namen erinnern. Ich liege hier herum und versuche draufzukommen, aber es gelingt mir einfach nicht. Der Vorname ist Don, glaube ich, aber ich
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