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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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dass Trause gesagt hatte, sie sei «hübsch anzusehen», und als ich sie nun mit eigenen Augen sah, musste ich zugeben, dass auch ich sie bemerkenswert attraktiv fand – eine große, gut gebaute junge Frau mit glänzend schwarzer Haut und lebhaften, wachsamen Augen. Kein G-String natürlich, keine bloßen Brüste oder weißen Lederstiefel, aber das war nun die zweite Französisch sprechende, zwanzigjährige Schwarze, die mir innerhalb von zwei Tagen über den Weg gelaufen war, und ich fand diese Wiederholung unangenehm, nahezu unerträglich. Warum konnte Régine Dumas kein pummeliges, unscheinbares Mädchen sein, mit schlechtem Teint und Buckel? Sie mochte keine so atemberaubende Schönheit wie Martine aus Haiti sein, war aber auch so entzückend genug, und als sie mir öffnete und mich auf ihre freundliche, selbstbewusste Art anlächelte, kam mir das vor wie eine Rüge, eine spöttische Reaktion meines geplagten Gewissens. Ich hatte mich nach Kräften bemüht, nicht an das zu denken, was am Tag zuvor geschehen war, meinen kläglichen Ausrutscher zu vergessen und hinter mir zu lassen, aber es gab kein Entrinnen vor dem, was ich getan hatte. Martine war mir in Gestalt von Régine Dumas wieder erschienen. Sie war jetzt überall, sogar in der Wohnung meines Freundes in der Barrow Street, eine halbe Welt entfernt von dem schäbigen Betonbau in Queens.
    Im Gegensatz zu seiner ungepflegten Erscheinung am Samstagabend machte John diesmal einen anständigen Eindruck. Er war gekämmt und rasiert, er trug ein frisches Hemd und saubere Socken. Aber er lag noch immer unbeweglich auf dem Sofa, das linke Bein auf einem Berg von Kissen und Decken, und er schien beträchtlicheSchmerzen zu haben – so schlimm wie beim letzten Mal, wenn nicht schlimmer. Sein glatt rasiertes Gesicht hatte mich getäuscht. Als Régine das Tablett mit dem Essen nach oben brachte (Truthahnsandwichs, Salat, Mineralwasser), gab ich mir alle Mühe, sie nicht anzusehen. Ich richtete also meine ganze Aufmerksamkeit auf John, und als ich seine Züge noch sorgfältiger betrachtete, bemerkte ich, wie erschöpft er aussah: seine tief in die Höhlen eingesunkenen Augen, seine beunruhigend blasse Haut. Zweimal stand er während meines Besuchs vom Sofa auf, und beide Male konnte er sich nur mit Hilfe seiner Krücke in die Senkrechte bringen. Das Gesicht, das er zog, sobald er mit dem linken Fuß den Boden berührte, ließ deutlich erkennen, dass ihm schon der leiseste Druck auf die Vene unerträgliche Schmerzen bereitete.
    Ich fragte ihn, wann es denn besser werden sollte, aber John wollte nicht davon sprechen. Als ich jedoch weiter in ihn drang, gab er schließlich zu, dass er uns am Samstagabend nicht alles erzählt hatte. Er habe Grace nicht beunruhigen wollen, sagte er, aber die Wahrheit sei, dass er nicht ein, sondern zwei Blutgerinnsel im Bein habe. Eins in einer Vene an der Oberfläche; das habe sich inzwischen praktisch aufgelöst und stelle keine Bedrohung dar, auch wenn es der Hauptgrund für seine «Beschwerden» sei, wie John das nannte. Das zweite befinde sich in einer tiefer gelegenen Vene, und dieses sei es, was dem Arzt Sorgen mache. John müsse massive Dosen eines Blutverdünnungsmittels schlucken, und am Freitag habe er im Saint Vincent’s einen Termin für eine Tomographie. Wenn das Ergebnis nicht zufrieden stellend ausfalle, wolle der Arzt ihn ins Krankenhaus einweisen und so lange dort behalten, bis das Gerinnsel verschwunden sei. Einetiefe Venenthrombose könne tödlich sein, sagte John. Wenn das Gerinnsel sich in Bewegung setze, könne es durch den Kreislauf in seine Lunge gelangen, und dies wiederum führe zu einer Lungenembolie und nahezu sicher zum Tod. «Das ist, als ob man mit einer kleinen Bombe im Bein herumläuft», sagte er. «Wenn ich sie zu heftig bewege, könnte sie mich in die Luft sprengen.» Dann fügte er hinzu: «Kein Wort zu Gracie. Das bleibt unter uns. Verstanden? Kein Sterbenswörtchen.»
    Wenig später kamen wir auf seinen Sohn zu sprechen. Ich weiß nicht mehr, was uns in diesen Abgrund von Verzweiflung und Selbstvorwürfen geführt hat, aber es war nicht zu übersehen, wie sehr ihn dieses Thema quälte, und die Sorgen, die er sich wegen seines Beines machen mochte, waren nichts im Vergleich zu dem tiefen Kummer, den ihm Jacob machte. «Ich habe ihn verloren», sagte er. «Nach der Nummer, die er jetzt abgezogen hat, kann ich ihm niemals mehr ein Wort glauben.»
    Bis zur aktuellen Krise hatte Jacob an der SUNY Buffalo

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