Nacht des Orakels
Der Zug glitt aus dem Bahnhof, und ein paar Sekunden später war er verschwunden.
Ich hatte mich seit der Entlassung aus dem Krankenhaus schon ähnlicher Fehlleistungen schuldig gemacht, aber keine war schlimmer oder schmerzlicher als diese. Statt den Umschlag in der Hand zu behalten, hatte ich ihn wie ein Idiot in eine Tasche gesteckt, die zu klein dafür war, und jetzt lag Johns Manuskript auf dem Boden einer U-Bahn nach Coney Island, und die halbe Einwohnerschaft Brooklyns trampelte mit ihren Schuhen darauf herum. Ein unverzeihlicher Fehler. John hatte mir das einzige Exemplar eines unveröffentlichten Manuskripts anvertraut, und wenn man allein an das wissenschaftliche Interesse an seinem Werk dachte, konnte man davon ausgehen, dass ein solches Manuskript mehrere hundert Dollar wert war, wenn nicht Tausende. Was sollte ich ihm antworten, wenn er mich fragte, was ich davon hielt? Er hatte gesagt, ich solle es in den Müll werfen, wenn es mir nicht gefiele, aber das war nur eine übertriebene Art, seinen Text herabzusetzen, ein Scherz. Natürlich würde erdas Manuskript zurückhaben wollen – ob es mir gefiel oder nicht. Ich hatte keine Ahnung, wie ich das wieder gutmachen könnte. Wenn mir jemand angetan hätte, was ich soeben Trause angetan hatte, ich glaube, ich hätte den Betreffenden vor Wut erwürgen können.
Der Verlust hatte mich sehr niedergeschlagen, aber wie sich herausstellen sollte, fing damit ein langer, schwieriger Abend gerade erst an. Als ich nach Hause kam und die drei Treppen zur Wohnung hochstieg, sah ich, dass die Tür offen stand – nicht bloß angelehnt, sondern bis zum Anschlag aufgestoßen. Mein erster Gedanke war, Grace sei früher zurückgekommen, habe vielleicht einen Arm voll Pakete und Einkaufstüten hineingetragen und dann vergessen, die Tür zuzumachen. Nach einem Blick ins Wohnzimmer war mir jedoch klar, dass Grace nichts damit zu tun hatte. Jemand war in die Wohnung eingebrochen, sehr wahrscheinlich über die Feuertreppe, und hatte das Küchenfenster aufgehebelt. Bücher lagen auf dem Boden verstreut, unser kleiner Schwarzweißfernseher war weg, und ein Foto von Grace, das auf dem Kaminsims gestanden hatte, lag zerrissen auf dem Sofa. Letzteres empfand ich als besonders bösartig, geradezu als persönlichen Angriff. Als ich zum Bücherregal ging, um mir den Schaden anzusehen, bemerkte ich, dass nur die wertvollsten Stücke fehlten: signierte Exemplare der Romane von Trause und einigen anderen befreundeten Schriftstellern, ein halbes Dutzend Erstausgaben, die mir im Lauf der Jahre geschenkt worden waren. Hawthorne, Dickens, Henry James, Fitzgerald, Wallace Stevens, Emerson. Wer auch immer uns bestohlen hatte, war kein gewöhnlicher Dieb. Er kannte sich mit Literatur aus, und er hatte sich auf die wenigen Schätze beschränkt, die wir besaßen.
Mein Arbeitszimmer schien unberührt, aber das Schlafzimmer war systematisch und gründlich durchwühlt worden. Jede Schublade aus der Kommode gezogen, die Matratze umgedreht. Und die Lithographie von Bram van Velde, die Grace Anfang der siebziger Jahre in der Pariser Galerie Maeght gekauft hatte, hing nicht mehr an der Wand über unserem Bett. Eine Untersuchung der Schubladen ergab, dass auch Graces Schmuckschatulle verschwunden war. Sie besaß nicht viel, aber sie hatte ein Paar Mondstein-Ohrringe, die sie von ihrer Großmutter geerbt hatte, in dieser Schachtel aufbewahrt, außerdem ein Armband mit einem Amulett aus ihrer Kindheit und eine silberne Halskette, die ich ihr zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt hatte. Jetzt war irgendein Fremder mit diesen Sachen abgezogen, und das kam mir so grausam und sinnlos vor wie eine Vergewaltigung, eine brutale Plünderung unserer kleinen Welt.
Wir hatten keine Diebstahl- oder Hausratversicherung, und ich hatte wenig Lust, die Polizei zu rufen und den Einbruch anzuzeigen. Einbrecher wurden nie gefasst, und ich sah keinen Grund, etwas zu verfolgen, was mir aussichtslos schien; doch ehe ich eine Entscheidung traf, musste ich herausfinden, ob sonst noch jemand im Haus bestohlen worden war. Es gab in dem Gebäude drei weitere Wohnungen – eine über uns und zwei unter uns –, und als Erstes ging ich nach unten ins Parterre und sprach mit Mrs. Caramello, die zusammen mit ihrem Mann, einem ehemaligen Friseur, der die meiste Zeit vor dem Fernseher saß oder im Wettbüro auf Football-Spiele setzte, die Hausverwalterstelle innehatte. Bei ihnen war nichts passiert, aber immerhin beunruhigte sie
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