Nacht des Orakels
mein Bericht so sehr, dass sie ihren Mann herbeirief, der in Pantoffelnzur Tür geschlurft kam und die Nachricht bloß mit einem Ächzen quittierte. «Wahrscheinlich so ein verdammter Junkie», sagte er. «Sie sollten sich Gitter vor die Fenster machen, Sid. Anders kann man sich dieses Gesocks nicht vom Leib halten.»
Die anderen zwei Mieter waren ebenfalls verschont worden. Anscheinend waren wir die einzigen, die keine Gitter vor den Fenstern hatten, und daher war es nur logisch, dass es uns erwischt hatte – vertrauensselige Trottel, die es nicht für nötig hielten, geeignete Vorsichtsmaßregeln zu treffen. Alle bedauerten uns, gaben aber indirekt zu verstehen, dass wir es nicht anders verdient hatten.
Als ich wieder in die Wohnung kam und das Chaos in etwas ruhigerer Verfassung besichtigen konnte, war mein Schrecken noch größer. Eins nach dem andern sprangen mir Details, die ich zuvor übersehen hatte, in die Augen und verstärkten das Gefühl der Bedrohung. Eine Stehlampe links neben dem Sofa lag umgestürzt und kaputt am Boden, eine Blumenvase in Scherben auf dem Teppich, und selbst unser kläglicher Neunzehn-Dollar-Toaster stand nicht mehr an seinem Platz in der Küche. Ich rief Grace im Büro an, um sie auf den Schock vorzubereiten, aber dort nahm niemand ab, was mir darauf hinzudeuten schien, dass sie bereits gegangen und auf dem Heimweg war. Da ich sonst nichts mit mir anzufangen wusste, begann ich die Wohnung aufzuräumen. Das muss gegen halb sieben gewesen sein; ich rechnete damit, dass Grace jeden Augenblick zur Tür hereinkäme, und arbeitete über eine Stunde lang, fegte Scherben zusammen, stellte Bücher ins Regal zurück, legte die Matratze wieder richtig ins Bett und brachte die Kommode in Ordnung.Anfangs war ich froh, dass ich so rasche Fortschritte machte, während Grace noch nicht da war. Je besser ich die Wohnung wiederherstellen konnte, desto geringer ihr Schrecken, wenn sie kam. Dann aber war ich fertig mit dem, was ich mir vorgenommen hatte, und sie war immer noch nicht da. Inzwischen war es viertel vor acht, weit über die Zeit hinaus, da man eine Störung im Betrieb der Subway dafür verantwortlich machen konnte, dass sie es noch nicht nach Brooklyn geschafft hatte. Gewiss, gelegentlich machte sie Überstunden, aber dann rief sie jedes Mal an und sagte Bescheid, wann sie das Büro verlassen werde; aber auf dem Anrufbeantworter war keine Nachricht von ihr. Zur Sicherheit wählte ich noch einmal ihre Nummer bei Holst & McDermott, aber wieder nahm dort niemand ab. Sie war nicht im Büro, und sie war nicht nach Hause gekommen, und plötzlich schien mir der Einbruch nur noch nebensächlich, eine unbedeutende Störung in ferner Vergangenheit. Grace war verschwunden, und als es auf acht Uhr zuging, befand ich mich bereits in einem Zustand fieberhafter, grenzenloser Panik.
Ich rief ein paar Leute an – Freunde, Mitarbeiter, sogar ihre Cousine in Connecticut –, aber erst der letzte meiner Gesprächspartner hatte mir etwas mitzuteilen. Greg Fitzgerald war Leiter der Kunstabteilung von Holst & McDermott, und ihm zufolge hatte Grace ihn am Morgen um kurz nach neun im Büro angerufen und gesagt, sie könne an diesem Tag nicht zur Arbeit kommen. Es tue ihr sehr Leid, aber es habe sich etwas Dringendes ergeben, um das sie sich unverzüglich kümmern müsse. Worum es da ging, habe sie nicht gesagt, aber als Greg sie fragte, ob mit ihr alles in Ordnung sei, habe sie erst nach einigem Zögern geantwortet. «Ich glaube schon», habesie schließlich gesagt, und Greg, der sie seit Jahren kannte und ihr außerordentlich zugetan war (ein Schwuler, halb verliebt in seine hübscheste Kollegin), fand diese Antwort verwirrend. «Das passt nicht zu ihr», war der Ausdruck, den er benutzte, glaube ich, doch als er die wachsende Verzweiflung in meiner Stimme vernahm, versuchte er mich mit der Bemerkung zu beschwichtigen, am Ende des Gesprächs habe Grace noch gesagt, morgen früh käme sie wieder ins Büro. «Machen Sie sich keine Sorgen, Sidney», fuhr Greg fort. «Wenn Grace sagt, sie tut etwas, dann tut sie es auch. Ich arbeite seit fünf Jahren mit ihr zusammen, und sie hat mich noch kein einziges Mal im Stich gelassen.»
Ich blieb die ganze Nacht auf und wartete auf sie, halb von Sinnen vor Angst und Verwirrung. Ehe ich mit Fitzgerald gesprochen hatte, war ich zu der Überzeugung gelangt, dass Grace irgendetwas Schlimmes zugestoßen sein musste – sie war überfallen, belästigt, von einem Lastwagen
Weitere Kostenlose Bücher