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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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sonst es riskiert, Scheitern ist seine Welt
.) Van Veldes Gemälde waren rar und teuer, aber seine graphischen Arbeiten aus den Sechzigern und frühen Siebzigern waren damals noch einigermaßen bezahlbar, und Grace hatte dieses Bild in Raten von ihrem eigenen Geld bezahlt, hatte am Essen und anderen Lebensbedürfnissen gespart, um im Rahmen des von ihrem Vater monatlich geschickten Taschengeldes zu bleiben. Die Lithographie war ein wichtiger Teil ihrer Jugend, ein Symbol ihrer zunehmenden Leidenschaft für die Kunst und ein Zeichen ihrer Selbständigkeit – eine Brücke zwischen den letzten Tagen ihrer Jugend und ihren ersten Tagen als Erwachsene   –, und das Bild bedeutete ihr mehr als alles andere, was sie besaß.
    Sie brauchte fünfzehn, zwanzig Minuten, bis sie sich wieder gefasst hatte, dann ging sie ins Bad, um sich die verschmierte Wimperntusche abzuwaschen und das Gesicht wieder in Ordnung zu bringen. Ich wartete so lange im Schlafzimmer, weil ich dachte, wir würden unser Gespräch dort fortsetzen können, aber als sie zurückkam, sagte sie nur, es sei schon spät, sie müsse jetzt zur Arbeit. Ich versuchte ihr das auszureden, aber sie blieb dabei. Sie habe Greg versprochen, heute Morgen pünktlich zu sein, sagte sie; es sei so freundlich von ihm gewesen, ihr den gestrigen Tag freizugeben, und sie wolle seine Freundschaft nicht noch weiter ausnutzen. Versprochen sei versprochen, sagte sie, worauf ich erwiderte, dass wir noch einiges zu bereden hätten. Schon möglich, antwortete sie, aber das könne warten, bis sie von der Arbeit nach Hause käme. Wie um ihre guten Absichten zu beweisen, setzte sie sich noch einmal aufs Bett, schlang die Arme um mich und hielt mich, wie mir schien, ziemlich lange an sich gedrückt. «Mach dir keine Sorgen um mich», sagte sie. «Mit mir ist jetzt wirklich alles in Ordnung. Gestern das hat mir sehr gut getan.»

 
    Ich nahm meine Morgentabletten, ging ins Schlafzimmer zurück und schlief bis in den Nachmittag hinein. Ich hatte für den Tag nichts vor, der einzige Punkt auf meiner Tagesordnung war, die Zeit, bis Grace wieder nach Hause kam, so ruhig wie möglich zuzubringen. Sie hatte mir versprochen, unser Gespräch am Abend fortzusetzen, und wenn versprochen wirklich versprochen war, hatte ich die Absicht, sie beim Wort zu nehmen und alles zu tun, um die Wahrheit aus ihr herauszulocken. Ich war nicht sonderlich optimistisch, aber ob mir das nun gelänge oder nicht, weiterkommen würde ich jedenfalls nur, wenn ich mir richtig Mühe gab.
    Der Himmel war an diesem Nachmittag hell und klar, aber die Temperatur war auf wenige Grad über null gesunken, und zum ersten Mal seit dem fraglichen Tag spürte ich einen Hauch von Winter in der Luft, einen Vorgeschmack auf das, was bald kommen würde. Wieder einmal war ich aus dem gewohnten Schlafrhythmus gerissen worden und fühlte mich schlechter als gewöhnlich – ich bewegte mich unsicher, bekam nur schwer Luft, geriet bei jedem Schritt bedenklich ins Schwanken. Es war, als sei ich in ein früheres Stadium meiner Genesung zurückgefallen, zurück in die Epoche kreisender Farben und gebrochener, unsteter Wahrnehmungen. Ich fühlte mich extrem verwundbar, schon die Luft als solche kam mir wie eine Bedrohung vor, als könnte ein unerwarteter Windstoß einfach durch mich hindurchblasen und meinen Körper in Trümmern zu Boden werfen.
    Ich kaufte in einem Haushaltswarengeschäft in der Court Street einen neuen Toaster, und diese schlichte Transaktion zehrte nahezu alle meine körperlichen Reserven auf. Als ich einen ausgesucht hatte, den wir uns leistenkonnten, und das Geld aus der Brieftasche genommen und der Frau an der Kasse gegeben hatte, begann ich zu zittern und war kurz davor, in Tränen auszubrechen. Sie fragte, ob etwas nicht stimme. Ich sagte nein, aber meine Antwort klang offenbar nicht sehr überzeugend, denn Sekunden später fragte sie, ob ich mich setzen und ein Glas Wasser trinken wolle. Sie war ziemlich dick, Anfang sechzig, und hatte den schwachen Schatten eines Schnurrbarts auf der Oberlippe, und es war ein kleiner Laden, den sie führte, düster und staubig, ein heruntergekommener Familienbetrieb mit nur noch halb gefüllten Regalen. So großzügig ihr Angebot war, ich wollte dort keine Minute mehr bleiben. Ich dankte ihr und machte mich auf, taumelte zum Ausgang und lehnte mich dann an die Tür, um sie mit der Schulter aufzustoßen. Danach stand ich eine Weile auf dem Bürgersteig, sog in tiefen Zügen die eisige

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