Nacht des Orakels
unser Freund. Warum sollte er es nicht wissen dürfen?»
Sie zögerte einige Sekunden, bevor sie antwortete. «Weil es unser Geheimnis ist», sagte sie schließlich, «und wir noch nicht entschieden haben, was wir machen wollen. Ich habe das noch nicht mal meinen Eltern erzählt. Wenn John mit meinem Vater redet, könnte die Sache schrecklich kompliziert werden.»
«Das wird er nicht. Dazu macht er sich zu große Sorgen um dich.»
«Sorgen?»
«Ja, Sorgen. Genau so, wie ich mir Sorgen mache. Du hast ganz untypisch gehandelt, Grace. Da muss sich jeder Sorgen machen, der dich liebt.»
Im weiteren Verlauf unseres Gesprächs lockerte sich ihr Widerstand ein wenig, und ich war fest entschlossen, ihr so lange zuzusetzen, bis sie mir alles erzählt hatte, bis ich verstand, was sie zu ihrer rätselhaften vierundzwanzigstündigen Flucht getrieben hatte. Es stand so viel auf dem Spiel, dachte ich, und wenn sie nicht mit der Wahrheit herausrückte, wie sollte ich ihr dann noch trauen können? Vertrauen war das Einzige, was sie von mir verlangte, unddoch war es mir seit ihrem merkwürdigen Ausbruch in dem Taxi am Samstagabend unmöglich geworden, nicht das Gefühl zu haben, dass etwas nicht stimmte, dass Grace unter einer Last, die sie nicht mit mir teilen wollte, in die Knie zu gehen drohte. Für kurze Zeit hatte mir die Schwangerschaft als Erklärung dafür eingeleuchtet, aber jetzt war ich mir da nicht mehr so sicher. Es war etwas anderes, zusätzlich zu dem Kind, und bevor ich mich mit Gedanken an andere Männer und heimliche Affären und finsteren Betrug herumquälte, wollte ich doch lieber von ihr erfahren, was da los war. Leider wurde die Unterhaltung an dieser Stelle plötzlich unterbrochen, und ich war nicht mehr in der Lage, meinen Gedankengang weiter zu verfolgen. Das geschah, kurz nachdem ich Grace erzählt hatte, wie sehr ich mich um sie gesorgt hatte. Ich nahm ihre Hand, und als ich sie zu mir heranzog, um sie auf die Wange zu küssen, bemerkte sie nun doch, dass die Stehlampe nicht mehr da war, wo sie sein sollte, dass der Raum links vom Sofa leer war. Ich musste ihr von dem Einbruch erzählen, und damit schlug natürlich die ganze Stimmung um, und statt mit ihr über diese eine Sache zu reden, musste ich nun von einer anderen anfangen.
Zunächst schien Grace die Neuigkeit gelassen hinzunehmen. Ich zeigte ihr die Lücke im Bücherregal, wo die Erstausgaben gestanden hatten, wies auf den Beistelltisch, der den kleinen Fernseher getragen hatte, führte sie dann in die Küche und teilte ihr mit, dass wir einen Toaster kaufen mussten. Grace zog die Schubladen unter der Anrichte auf (was ich noch nicht getan hatte) und entdeckte, dass unser bestes Silberbesteck, ein Geschenk ihrer Eltern zu unserem ersten Hochzeitstag, ebenfalls verschwunden war. Und jetzt packte sie die Wut. Sie trat die untersteSchublade mit dem rechten Fuß zu und begann zu fluchen. Grace wurde nur selten ordinär, aber an diesem Morgen war sie für ein paar Minuten außer sich und ließ einen Schwall Flüche vom Stapel, der alles übertraf, was ich je aus ihrem Mund gehört hatte. Dann gingen wir ins Schlafzimmer, und dort ergoss sich ihre Wut schließlich in Tränen. Als ich ihr von der Schmuckschachtel erzählte, bebte ihre Unterlippe, aber als sie sah, dass auch die Lithographie gestohlen worden war, setzte sie sich aufs Bett und begann zu weinen. Ich tat alles, um sie zu trösten, versprach, so schnell wie möglich einen anderen van Velde für sie aufzutreiben, wusste aber, dass der, den sie als Zwanzigjährige auf ihrer ersten Parisreise gekauft hatte, durch nichts zu ersetzen war: eine schwungvolle Formation verschiedener leuchtender Blautöne, in der Mitte aufgelockert durch einen runden weißen Fleck und einen gebrochenen roten Strich. Ich selbst hatte inzwischen Jahre mit dem Bild gelebt und war nie müde geworden, es anzusehen. Es war eins dieser Werke, die einem immer wieder etwas Neues gaben, die sich nie abzunutzen schienen. 12
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Grace hatte an der Rhode Island School of Design studiert und zwei Auslandssemester in Paris verbracht. Auf van Velde hatte Trause sie hingewiesen: er schrieb ihr in einem Brief, er habe van Velde in den fünfziger Jahren ein paar Mal gesehen, der Mann sei Samuel Becketts Lieblingskünstler gewesen. (Er legte ihr Becketts Dialog mit Georges Duthuit über van Velde bei.
Ich behaupte, van Velde ist … der Erste, der eingestanden hat, dass Künstler sein Scheitern bedeutet, zu scheitern, wie niemand
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