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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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oder Taxi überfahren worden, ein Opfer der zahllosen Brutalitäten, die einer Frau auf den Straßen von New York zustoßen können. Jetzt schien mir das unwahrscheinlich, aber wenn sie nicht tot oder in Gefahr war – was war dann los mit ihr, und warum hatte sie mich nicht angerufen und mir gesagt, wo sie war? Immer wieder spielte ich unsere Unterhaltung am Morgen auf dem Weg zur Subway durch, versuchte aus ihren eigenartig emotionsgeladenen Bemerkungen zum Thema Vertrauen schlau zu werden, erinnerte mich an die Küsse, die sie mir gegeben hatte, und wie sie sich dann ganz unvermittelt von mir losgerissen hatte und davongelaufen war, ohne sich noch einmal umzudrehen und zu winken, bevor sie die Treppe hinunter verschwand. So verhielt sich eine, die spontan zu einem Entschlussgekommen war, die plötzlich eine Entscheidung getroffen hatte, aber immer noch von erheblichen Zweifeln gequält wurde, die immer noch so schwankend in ihrem Entschluss war, dass sie es nicht gewagt hatte, auch nur ein einziges Mal zurückzublicken, aus Furcht, jeder weitere Blick zu mir könnte ihre Entschlossenheit zerstören, zu tun, was auch immer sie sich vorgenommen hatte. So viel glaubte ich zu begreifen, aber darüber hinaus verstand ich gar nichts. Grace war mir ein unlösbares Rätsel geworden, und jeder Gedanke, der mir in dieser Nacht kam, wuchs sich jäh zu einer Geschichte aus, einem grauenhaften kleinen Drama, das sich aus meinen tiefsten Ängsten für unsere gemeinsame Zukunft speiste – die sich rapide in Luft aufzulösen schien.
    Wenige Minuten nach sieben kam sie nach Hause, gut zwei Stunden nachdem ich mich damit abgefunden hatte, dass ich sie nie mehr wieder sehen würde. Sie trug andere Sachen als die, die sie am Morgen zuvor angehabt hatte, und gut sah sie aus, frisch geschminkt mit hellrotem Lippenstift, elegantem Augen-Make-up und einem Hauch Rouge auf den Wangen. Ich saß auf dem Sofa im Wohnzimmer, und als ich sie hereinkommen sah, war ich so verblüfft, dass ich buchstäblich kein Wort herausbrachte. Grace lächelte mich an – ruhig, strahlend, ganz sie selbst   –, kam dann zu mir herüber und gab mir einen Kuss auf die Lippen.
    «Ich weiß, ich habe dich auf eine sehr harte Probe gestellt», sagte sie, «aber das musste sein. Es wird nie wieder vorkommen, Sidney. Ehrenwort.»
    Sie setzte sich neben mich und küsste mich noch einmal, aber ich brachte es nicht fertig, die Arme um sie zu legen. «Du musst mir sagen, wo du warst», fing ich an underschrak über die Wut und Verbitterung in meiner Stimme. «Schluss mit Schweigen, Grace. Du musst reden.»
    «Ich kann nicht», sagte sie.
    «Doch, du kannst. Du musst.»
    «Gestern früh hast du gesagt, du vertraust mir. Vertrau mir weiter, Sid. Um mehr bitte ich nicht.»
    «Wenn Leute so etwas sagen, heißt das, sie haben etwas zu verbergen. Immer. Das ist wie ein mathematisches Gesetz, Grace. Also, was hast du? Was verschweigst du mir?»
    «Nichts. Ich musste gestern nur mal allein sein, das ist alles. Ich habe Zeit zum Nachdenken gebraucht.»
    «Gut. Tu das und denk nach. Dass du nicht angerufen hast, mir nicht gesagt hast, wo du steckst, das war die reine Folter für mich.»
    «Ich wollte ja, aber ich konnte nicht. Ich weiß nicht warum. Es war, als müsste ich mir vormachen, dass ich dich gar nicht kenne. Nur für ganz kurze Zeit. Das war gemein, aber es hat mir geholfen, es hat mir wirklich geholfen.»
    «Wo hast du die Nacht verbracht?»
    «So war das nicht, glaub mir. Ich war allein. Ich habe mir ein Zimmer im Gramercy Park Hotel genommen.»
    «Welche Etage? Wie war die Zimmernummer?»
    «Bitte, Sid, lass das. Das ist nicht fair.»
    «Ich könnte da anrufen und das nachprüfen, oder?»
    «Natürlich könntest du das. Aber das würde bedeuten, dass du mir nicht glaubst. Und dann hätten wir ein Problem. Aber wir haben kein Problem. Genau darum geht es. Es geht uns gut, und dass ich hier bin, ist der Beweis dafür.»
    «Ich nehme an, du hast über das Kind nachgedacht   …»
    «Unter anderem, ja.»
    «Und? Gibt’s was Neues?»
    «Ich bin immer noch unschlüssig. Ich weiß immer noch nicht, was ich tun soll.»
    «Ich war gestern ein paar Stunden bei John, und er meint, du solltest es abtreiben lassen. Er besteht geradezu darauf.»
    Grace machte ein überraschtes und verärgertes Gesicht. «John? Aber der weiß doch gar nicht, dass ich schwanger bin.»
    «Ich hab’s ihm erzählt.»
    «Oh, Sidney. Das hättest du nicht tun dürfen.»
    «Warum nicht? Er ist doch

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